Zum Programm der LINKEN zur Europawahl 2019

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EIN SPAGAT, DER NICHT MEHR FUNKTIONIERT

von Thies Gleiss

Im Mai 2019 finden zum dritten Mal seit Gründung der LINKEN die Wahlen zum Europaparlament der Europäischen Union statt. Die Wahlergebnisse 2009 (7,5 Prozent und 8 Mandate) und 2014 (7,4 Prozent und 7 Mandate) waren für die LINKE stets schlechter als die Umfragen, was fast typisch für die LINKE ist, die auch bei anderen Wahlen fast regelmäßig ungefähr nur Zweidrittel der letzten Umfragen vor den Wahlen erreicht. Aber die Ergebnisse waren auch schlechter als die zeitgleichen Ergebnisse bei Bundestagswahlen. Insbesondere 2009, im Jahr der tiefsten Krise des kapitalistischen Weltsystems seit Jahrzehnten und im Jahr des Umbruchs auch in dem Projekt der kapitalistischen Vereinigung eines großen Teils Europas im Rahmen der EU, war das Ergebnis für eine antikapitalistische, linke Partei im wichtigsten Land der EU eher enttäuschend.

Die LINKE hat generell Probleme, ihre Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, bei den Europawahlen kommt dies besonders zum Zug.

Der Grund dafür ist, dass die Positionen der LINKEN zur EU sehr heterogen, strategielos und ohne politisches Projekt sind. Obwohl die 12 Jahre seit Gründung der EU täglich neue Gründe lieferten, dass diese „Europäische Union“ nur ein Projekt eines Teils des europäischen Kapitals ist, das  immer mehr an seinen eigenen, inneren Widersprüchen zerbricht, hält ein Teil der Mitgliedschaft und Führungsriege der LINKEN hartnäckig an der Meinung fest, die EU sei ein Projekt, das von der LINKEN zu verteidigen sei. Andere Teile der Partei registrieren stattdessen, dass die Zustimmung der Bevölkerung für die EU in den meisten Mitgliedsstaaten sinkt, dass die konkrete Politik zu schweren ökonomischen Belastungen für die Menschen geführt hat und dass aus einem bürgerlichen Politikprojekt, mit dem ursprünglich auch ein paar Hoffnungen in den Unterklassen verbunden waren, heute fast überall als Bedrohung und Austeritätsmonster angesehen wird.

Die Krise der EU hat dazu geführt, dass alle Mitgliedstaaten die eigenen nationalen Interessen wieder stärker betonen. Die Wirtschaftspolitik der EU wird fast nur von deutschen Interessen gelenkt und alle anderen Mitgliedsstaaten stellen sich denen mal mehr, mal weniger entgegen. Nationalhymnen, Fahnen und andere nationalistische Spielereien bekommen seit Jahren wieder eine wachsende Bedeutung im Herrschaftsmodell des Kapitals überall in Europa. In fast allen Staaten hat dies zur Stärkung von rechten und extrem rechten, nationalistischen und rassistischen Parteien geführt, die, nach einer anfänglichen harten, ablehnenden EU-Kritik, fast alle bei einem Modell einer alternativen EU als das „Europa der Vaterländer“ angelangt sind.

Die Behauptung eines Teils der LINKEN, dass diese nationalistischen, rechten Parteien zur Krise der EU geführt haben und dass eine linke EU-Kritik sich nicht daran beteiligen darf, „eine Rückkehr zum Nationalismus“ zu befördern, stellt die Entwicklung auf den Kopf. Die Maßnahmen der einzelnen Regierungen, ihre besonderen Märkte und ökonomischen Interessen angesichts der EU-Austeritätspolitik unter deutschem Kommando zu schützen, waren der „Rückschritt zum Nationalismus“, den die EU niemals in ihrer Geschichte überwunden hatte und auch nicht überwinden wollte. Die rechten Parteien haben daran nur angedockt und sich als die konsequente Antwort auf die EU-Krise verkauft.

Das Projekt des europäischen Kapitals, mit der EU eine Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden, die sich auch auf politischer und staatlicher Ebene immer mehr vereinigt, die in Zukunft so etwas wie einen europäischen Nationalstaat mit europäischen Nationalgefühl bei den Menschen erzeugt, musste so wie es angelegt war scheitern und ist gescheitert. Die tiefe Krise des Kapitalismus 2008 und danach hat die Vorstellung zerstört, dass trotz einer gemeinsamen Währung Euro sehr unterschiedliche Produktivitätsniveaus in den einzelnen  Mitgliedsländern zu einem gemeinsamen Wachstum für lange Zeit zusammengeführt werden könnten. Das Patentrezept einer solchen win-win-Lösung, bei der selbst noch das am wenigsten produktive Mitgliedsland kapitalistisches Wachstum genererieren könnte, war das übliche: Wachstum auf Pump. Spätestens mit der Finanzkrise, die daraus folgenden Zwangsmaßnamen, private Verschuldung in staatliche Verschuldung zu verwandeln und Banken zu retten und letztlich die staatliche Verschuldung durch harte Sparpolitik auf Kosten der Arbeiter*innenklasse wieder sanieren zu wollen, kann dieses Rezept nicht mehr angewandt werden und wird nicht mehr angewandt.

Die EU zerbricht an ihren eigenen inneren Widersprüchen und treibt fast alle bürgerlichen Parteien und die von ihnen gestellten Regierungen in den Mitgliedsstaaten in eine tiefe Legitimationskrise. Ihnen laufen die Mitglieder und die Wähler*innen weg. Es entsteht eine politische Polarisierung, bei der leider die rechten und nationalistischen Parteien stärker gewachsen sind als linke Parteien.

Die europäische Linke ist in Sachen Europa tief gespalten und verunsichert. In mehreren Ländern in Nordeuropa ist die Linke mit einer klaren Anti-EU-Haltung groß geworden und kann jetzt, wo die EU in der finalen Krise steckt, leider davon kaum profitieren. Die Entscheidung in Britannien, die EU zu verlassen, hat die Linke in zwei Lager getrieben. Es gab eine linke „left“- und eine linke „remain“-Kampagne. Die Befürchtungen, dass eine linke Kampagne zum Verlassen der EU, zu einem massiven Aufstieg der Rechten führen würde, ist in Britannien komplett ausgeblieben. Die rechten Kräfte sind in eine Krise geraten und die Labour-Partei hat einen unglaublichen Aufstieg und neue Linksentwicklung unter Corbyn erfahren.

In den südlichen Ländern, allen voran Griechenland, die am stärksten unter den deutsch-dominierten Sparprogrammen gelitten haben, formiert sich die Linke neu, aber auch mit unklaren Positionen zur EU und zum Euro. Aber überall ist klar, dass eine linke Strategie nur eine Strategie zur Überwindung der konkreten Politik und Realität der EU sein kann.

Zu den Europawahlen zeichnen sich konkurrierende linke Wahlantritte ab, was der europäischen Linken sicher nicht guttun wird.  In dieser Situation hat die deutsche LINKE als maßgebliche Kraft innerhalb der Europäischen Linken und der Linken insgesamt, eine große Verantwortung, die linken Kräfte zusammenzuführen und politisch mit einem Programm gegen die Sparpolitik, gegen die Kriegspolitik und gegen die Klimazerstörungspolitik der EU zu bewaffnen.

Aber dieser Verantwortung wird die LINKE mit ihrer Europawahl-Strategie und ihrem Wahlprogramm leider nicht gerecht.

Das gleiche Programm wie vorher

Trotz dieser Ausgangslage versucht die LINKE mit ihrer Wahlstrategie und ihrem Wahlprogramm zur EU-Wahl weiterhin den Spagat, die EU-Freund*innen und die EU-Gegner*innen in ihren Reihen gleichermaßen gerecht zu werden.

Der jetzt vom Parteivorstand der Mitgliedschaft zur Diskussion und letztlichen Entscheidung auf dem Parteitag im Februar 2019 vorgelegte Programmentwurf ist im Wesentlichen der gleiche wie bei 2009 und 2014. Die EU soll vertraglich neu begründet und neugestartet werden. Die gegenwärtige Verfasstheit erlaubt keine Korrektur der Politik. Die EU ist nach wie vor undemokratisch, militaristisch und neoliberal.

Ein größerer Teil des Programms beschäftigt sich mit Fragen der deutschen Politik. Was naheliegend ist, weil der Wahlkampf hier stattfinden wird, aber auch, weil sich insbesondere die deutsche Politik und ihr Diktat gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten ändern muss. Eine linkskeynesianische Nachfrage orientierte Politik müsste in Deutschland zu höheren Löhnen führen und zu einer Abkehr von den Exportüberschüssen, die alle anderen EU-Staaten systematisch in die Verschuldung treiben.

Renten- und Sozialversicherungen sollen ausgebaut werden und generell das Öffentliche gestärkt und die privaten Profitinteressen zurückgedrängt werden. Die Bereiche der Daseins-Vorsorge müssen vergesellschaftet werden und ebenso die Schlüsselindustrien. Die Bankenmacht soll zerschlagen werden. Hier fanden Änderungsanträge der AKL Berücksichtigung im Programmentwurf.

Die EU muss umfassend demokratisiert werden, wobei die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments eine zentrale Rolle spielt. Aber auch eine Verfassung und Abstimmung darüber in den Mitgliedstaaten ist nötig. Die Rechte für Gewerkschaften und soziale Bewegungen müssen gestärkt werden, europäische Volksabstimmungen möglich sein.

Die EU muss zu einem europäischen Investitionsprogramm verpflichtet werden, von dem alle Mitgliedsstaaten profitieren.

Die EU muss ihre Bremserrolle beim Klima- und Umweltschutz aufgeben. Und vor allem muss die EU ihre militärischen Aufrüstungsbemühungen, innerhalb und außerhalb der Nato einstellen. Eine Friedenspolitik für ganz Europa unter Einschluss Russlands ist erforderlich.

Das alles wird auf gut neunzig Seiten mal detailverliebt, mal im großen Bogen aufgeführt, mit vielen Textpassagen, die wortgleich in früheren Programmen der LINKEN auftauchen.

Aber all diese Auslassungen zu einer anderen EU werden immer wieder zurecht mit langen Ausführungen ergänzt, dass die konkrete Politik der EU heute das genaue Gegenteil vom eigentlich Notwendigen betreibt.

Mehr als früher wird der Gegensatz zwischen EU-Modell und der Wirklichkeit vorgeführt. Wie soll es angesichts dessen, was die Menschen jeden Tag erleben, auch anders sein? Aber dieser Gegensatz wird steril und eher als akademische Synopse aufgeschrieben, die immer wieder beteuert, dass die LINKE natürlich für die EU sei, aber eben für eine andere.

Eine LINKE, die nicht recht weiß, was sie will

So bleibt der Gesamteindruck, dass hier eine politische Kraft zur Wahl antritt, die links ist und die kein gutes Haar an der EU lässt, aber trotzdem irgendwie noch eine Nische als Pro-EU-Partei finden möchte.

Diese Operation kann nicht gelingen. Die Plätze für Pro-EU-Parteien sind allesamt vergeben. SPD, CDU und FDP werden versuchen, die letzten EU-Sympathien und Vertröstungen zu mobilisieren, um ihr einziges bürgerliches Herrschaftsprojekt zu verteidigen. Gleichzeitig werden sie aber auch die nationalen deutschen Interessen ins Spiel bringen, nicht nur, weil auch weiterhin „in Europa deutsch gesprochen“ werden soll, sondern auch, um den Druck der rechten Parteien etwas entgegenzusetzen. Die GRÜNEN haben wie zuletzt bei allen Wahlen frisch und fröhlich den Part übernommen, die Partei zu sein, die den Kapitalismus mehr als alle anderen liebt. Sie verkaufen sich als die EU-Partei schlechthin und alles, was bisher in der EU schief gelaufen ist, seien Peanuts und würden die strahlende Zukunft der EU nicht beeinträchtigen. Die rechten Parteien versammeln sich hinter der Parole der „EU der Vaterländer“, die von der LINKEN nicht – wie von einigen deutschen und europäischen Linken vorgeschlagen – mit einer Formel „Für die EU der Nationalstaaten“ gekontert werden kann und darf.

Die LINKE wird als die Partei der EU-Kritik wahrgenommen. Und das ist gut so. In allen öffentlichen Auftritten wird die LINKE den Part der harten EU-Kritik übernehmen, und es wäre schön, wenn sie den auch gut übernehmen könnte. Da wird ein klägliches „Aber wir sind doch auch für die EU“ nur zu Späßen führen und die Tür in Richtung Unglaubwürdigkeit weit aufstoßen.

Es wäre besser, wenn die LINKE strategisch und in ihrem Wahlprogramm sehr eindeutig die Rolle der Anti-EU-Partei übernehmen würde. Die LINKE ist die Alternative zu den rechten, nationalistischen Parteien aber ebenso auch zu den pro-kapitalistischen und Pro-EU-Parteien des bürgerlichen Establishments.

Die AKL hat in den Diskussionen im Parteivorstand Änderungsanträge eingebracht, von denen die wichtigsten nicht übernommen wurden. Sie werden jetzt neu für den Parteitag eingereicht. Vor allem wäre eine alternative Präambel für das Wahlprogramm erforderlich, die unsere programmatischen Vorstellungen über das hinaus, was wir 2009 und 2014 gesagt haben, mit einer Strategie der Überwindung der EU und der konkreten EU-Politik verbinden.

Die LINKE ist eine sozialistische Partei, die natürlich gerade dann die Systemfrage zum Thema machen muss, wenn das alte System in einer Krise steckt.

Ein sozialistisches, anti-kapitalistisches Europa wächst im Widerstand gegen die EU

Neustart der EU, das reicht heute nicht. Selbst die die EU-Kommission und die die bürgerlichen Parteien benutzen mittlerweile diesen Begriff. Die konkrete Politik der EU hat bereits verheerende Schäden angerichtet, sie kann nicht mehr jungfräulich unbefangen kritisiert, sondern muss konkret gestoppt und überwunden werden.

Für diese Perspektive sollte die LINKE einen Wahlkampf führen.

Überwindung der EU, das bedeutet – so haben es die AKL-Bundessprecher*innen im Parteivorstand beschrieben – mindestens drei Ebenen, auf denen die Kritik und der Widerstand fortgesetzt werden sollte:

  • Die konkrete Kritik an den Strukturen und der Politik der EU, wie sie in dem Programmentwurf an den meisten Stellen auch ausgeführt wird;
  • Eine Politik der Verweigerung der Spar- und Kriegspolitik, der Umweltzerstörung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Eine „Rebellion“ gegen die deutschen EU-Diktate und die EU-Kommission, einschließlich des Rechtes zur Einschränkung der Mitgliedschaft, zum Austritt und zum Verlassen der Euro-Zone;
  • Und schließlich am wichtigsten: Die Entwicklung eines neuen Europas von Unten, die Stärkung der sozialen Bewegungen, grenzüberschreitender Arbeitskämpfe und das Einüben neuer Formen direkter Demokratie. Die Eigentumsfrage und ein neues Europaverständnis wird heute in grenzüberschreitenden Arbeitskämpfen wie bei Ryan-Airr, den Hafenbetrieben oder Amazon, in Klimaschutz-Mobilisierungen und in Demonstrationen gegen die Freihandelsverträge deutlich, ebenso im für 2019 geplanten Frauenstreik und antimilitaristischen Aktionen. Die LINKE muss dies zu einem politischen Programm und Aktionsvorschlägen zusammenführen.

Würde der Programmentwurf der LINKEN in diesem Sinne vom Kopf auf die Füße gestellt werden, dann könnte die LINKE auch ihre Wähler*innen mit einem überzeugenden und die eigenen Interessen ansprechenden Wahlkampf mobilisieren und sie würde ihrer Aufgabe, die führende Kraft in der Überwindung der EU zu werden, wie es die Linke und die Menschen überall in Europa von einer deutschen Linken erwarten, gerecht werden.

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