Integration oder Gegenmachtstrategie

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Fünf Thesen zur Regierungsbeteiligung der Linken. Von Ekkehard Lieberam

Erstens:
Taugliche Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Linksregierungen in Deutschland und Europa sind deshalb so schwierig, weil sie weder „mit dem gesunden Menschenverstand“ noch mit Mehrheitsentscheidungen, sondern nur wissenschaftlich zu beantworten sind. 

Die umgangssprachlichen Begriffe „links“ und Linksregierung sind höchst unklar. Die mit dieser Frage zusammenhängenden Probleme sind außerordentlich zahlreich und vielschichtig. Überdies ist zu beachten, dass bei dieser Debatte politische Interessen und das Bestrebungen, diese Interessen zu verschleiern, eine enorme Rolle spielen.

Wichtige Erfahrungen sind aus der Geschichte zu gewinnen. Bedeutsame Erkenntnisse ergeben sich aus politiktheoretischer Sicht. Die Verwirrung ist allgemein, weil längst theoretisch und historisch widerlegte Legenden über Erfolge linker Regierungen in der öffentlichen und politischen Debatte sehr zählebig sind und immer aufs Neue vorgetragen werden.

Auch gestandene Linke übersehen oft, dass es bei der Diskussion über den Sinn von Linksregierungen um das Erkennen eines schmalen Pfades zwischen Integration in den herrschenden Politikbetrieb und Gegenmachtstrategie geht. Will man diese komplizierte Dialektik erfassen und zugleich die Teilnahme am allgemeinen Illusionstheater zu dieser Frage verweigern, ist eine sachliche Diskussion unabdingbar. Zu unterscheiden ist zwischen Positionen, die unabdingbare Grundsatzpositionen zum Ausdruck bringen und solchen, die noch unscharf und diskutabel sind.

Die Irrwege politischen Denkens in dieser Frage sind vielfältig. Im Focus der Verwirrung steht die Propagierung „politischer Gestaltung mittels Regierungsverantwortung“ als Glaubensbekenntnis der Regierungslinken. Die Zurückweisung dieser Position ist notwendig. Aber der Schlagabtausch darf dabei nicht an die Stelle der wissenschaftlichen inhaltlichen Debatte treten.

Im Alltagsbewusstsein „linker“ Parteimitglieder und Wähler klaffen in dieser Frage Schein und Sein besonders weit auseinander. Um überhaupt verstanden zu werden, muss man als Marxist auch Probleme des taktischen politischen Verhaltens ernst nehmen. Nur wenige Politiker von Parteien, die sich als links verstehen, sind in der Lage, eine konzeptionell tragfähige Position zum Sinn und Unsinn von Linksregierungen zu vertreten.

Zweitens:
Es gibt eine ganze Reihe von geschichtlichen Erfahrungen, die deutlich machen, dass das besonders in Wahlkampagnen propagierte Klischee von einer Linksregierung, die demnächst „aber nun wirklich“ die „politische Wende“ hin zu sozialer Gerechtigkeit und Demokratie bringen wird, unrichtig sind.

Die geschichtlichen Erfahrungen besagen:

„Die Vorstellung, dass (Mitte-) Linksregierungen notwendig oder auch nur im Regelfall progressive Politik nach sich ziehen, ist falsch.“ (Raul Zedik)

Linksregierungen haben nur dann substantielle Verbesserungen der Lebensverhältnisse für die einfachen Bürger durchsetzen können, wenn dafür vorher einflussreiche außerparlamentarische Bewegungen gesellschaftliche Mehrheiten erkämpft hatten (Nationalversammlung nach der Novemberrevolution in Deutschland, deutsche Reichsregierung 1920/21, Volksfrontregierung 1934 und Linksregierung unter Mitterrand Anfang der siebziger Jahre in Frankreich).

Wahlkampagnen sind immer Veranstaltungen (auch für linke Parteien), in denen den Wählern viel versprochen wird (anders sind Wahlen offenbar nicht zu gewinnen). In „Regierungsverantwortung“ reduzieren sich diese Versprechen dann auf wenige Punkte, wenn nicht überhaupt das Gegenteil von dem, was zuvor gesagt wurde, die praktische Regierungspolitik bestimmt.

Verbesserungen der sozialen Lage der abhängig Arbeitenden im Sinne von z. T. bedeutenden sozialen Zugeständnissen konnten unter den Bedingungen der Systemauseinandersetzung von konservativen Regierungen (in Deutschland unter Führung der CDU/CSU) durchgesetzt werden.

Sozialdemokratisch geführten Regierungen erwiesen sich gerade in Deutschland (so mit der Agenda 2010) als Rammbock der neoliberalen Gegenreformation gegen den Sozialstaat.

Für alle Landesregierungen, an denen sich in Deutschland die PDS bzw. die LINKEN beteiligten, gilt: Die Landesregierungen wurden zwar in der Regel punktuell etwas besser, die Partei aber wurde schlechter. Sie geriet jeweils in eine Glaubwürdigkeitskrise und verlor zum Teil dramatisch Wählerstimmen.

Als Schlussfolgerung drängt sich auf: Es gibt offensichtlich außerhalb des „Willens“ der Parteien und der „linken Gesinnung ihrer Politiker“ noch weitaus wichtigere Faktoren, die ihr politisches Handeln „in Regierungsverantwortung“ bestimmen.

Drittens:
Die Gestaltungsmöglichkeiten von Regierungshandeln von Linksregierungen, die angetreten sind, die sozialen und politischen Gegebenheiten zu verbessern, werden durch fünf Faktoren begrenzt:

– Die gegebenen gesellschaftlichen Klassenmachtverhältnisse,
– die neben dem Parlament (im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems) bestehende Macht des eng mit den „Eliten“ der „Wirtschaft“ verbundenen bürokratischen Regierungsapparates,
– die rechtliche Ordnung, die weitgehend das „Wollen der ökonomischen Verhältnisse“ (Karl Marx) zum Ausdruck bringt und die bestehende politische Ordnung absichert,
– die durch die Finanzgesetze bestimmten finanziellen Grenzen von Regierungshandeln,
– die in Koalitionsregierungen übliche Begrenzung des Regierungshandelns auf „Schnittmengen“ zwischen Parteiprogrammen.

Regierungshandeln ist keine Willensfrage. Es wird durch machtpolitische, rechtliche, finanzielle und parteipolitische Grenzen bestimmt und begrent.

Die eklatante Kluft zwischen den geschichtlichen Erfahrungen und den von Politikern und den meisten Medien nach wie vor propagierten illusionären Bildern von Gestaltung in „Regierungsverantwortung“ als erfolgreichster Weg politischer Einflussnahme und als „Macht auf Zeit“ findet seine Erklärung in diesen Begrenzungen von Regierungshandeln. „Sie dachten sie wären an der Macht und waren doch nur an der Regierung“, sagte schon Kurt Tucholsky über SPD-Politiker.

Besonders eng sind diese Grenzen aus der Sicht der finanzrechtlichen Gegebenheiten für die Landesregierungen in Deutschland. Deren Gestaltungsraum wird schon dadurch extrem eingeengt, dass die Verfügung über die finanziellen Mittel des Landes bis zu 97 Prozent durch Bundesgesetze geregelt ist. Wenn die Regierenden, wie in Thüringen, die Schuldenbremse und das Verbot von Kreditaufnahmen akzeptieren, unterwerfen sie sich vollends dem „Diktat der leeren Kassen“.

Um diese Grenzen zu durchbrechen, kann es strategisch nur einen Weg geben: die grundlegende Veränderung der gegebenen politischen Machtverhältnisse mittels Massenmobilisierung für eine andere Politik und eine andere Gesellschaft. „Die Mobilisierung der Massen ist“, so einst Franz Mehring, „die einzige Waffe, der auf Dauer keine Macht der Erde widerstehen kann.“

Kaum aber hat es in der deutschen Geschichte links von der Sozialdemokratie eine derartige Ignoranz gegenüber den gegebenen politischen Machtverhältnissen zu Gunsten des Kapitals gegeben wie derzeit unter den maßgebenden Politikern der LINKEN.

Viertens:
Schon Rosa Luxemburg hat zu Beginn des 20. Jahrhundert darauf verwiesen, dass eine Regierungsübernahme durch die Sozialdemokratie unter Bedingungen ungünstiger gesellschaftlicher Machtverhältnisse unweigerlich der Logik folgen wird: „Wild nicht erlegt. Aber Flinte verloren.“

Die Integrationskraft des parlamentarischen Regierungssystems bewirkt bereits im Stadium der parlamentarischen Tätigkeit einer bei Wahlen erfolgreichen linken Partei tendenziell eine schrittweise Abkehr vom Primat der Massenmobilisierung als Hauptweg einer tauglichen Strategie progressiven Gesellschaftsveränderung. Die Aktivität der Partei erschöpft sich immer mehr in Wahlkämpfen und Wahlen. Karrieristen besetzen zentrale Positionen in der Partei. Das Parlament und die von diesem gewählte Regierung werden als Zentralachse der Politik betrachtet.

In der Regierung verbinden sich die Interessen der Politiker linker Parteien direkt mit den Interessen des Kapitals. Pekuniäre und machtpolitische Privilegien tragen zur endgültigen Akzeptanz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bei. Deren Überwindung wird kaum noch thematisiert. Linke Parteien wandeln ihren Charakter. Sie sind nicht mehr Organisationen zur Eroberung von politischen Macht für die arbeitende Klasse. Sie werden zu „kapitalistischen Betrieben“, in denen unten gearbeitet und oben Geld verdient wird. Sie blinken noch links, um Wahlen zu gewinnen und machen dann neoliberale Politik.

Dies ist das Muster der Anpassung vieler linker Parteien unter Bedingungen einer relativ stabilen politischen Herrschaftskonstellation zu Gunsten des Kapitals. Eine solche Konstellation ist in fast allen europäischen Ländern gegeben ist.

In Lateinamerika dagegen, unter den Bedingungen gesellschaftlicher Kämpfe und politischer Mehrheiten für grundlegende soziale und politische Umgestaltungen ist die Situation grundlegend anders. Die Übernahme und Ausübung von Regierungsgewalt wird dort zu Recht zur Kampflosung der antikapitalistischen Linken. Inwieweit eine derartige Situation demnächst nach einen möglichen Sieg von Syriza auch in Griechenland gegeben ist, kann nur im praktischen Kampf für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung ausgelotet werden. Die ganz anderen Herrschaftskonstellationen in der EU und angesichts der NATO Mitgliedschaft Griechenlands werden dabei zu beachten sein.

In Deutschland gibt es keine „linke Mehrheit“ in der Gesellschaft. Es gibt auch keine linke Mehrheit im Parteiensystem. SPD und Grüne sind systemkonforme Parteien, deren Führungen die neoliberale Kapitaloffensive und die Kriegspolitik mit exekutiert haben. Die Forderung maßgebender linker Politiker nach „Rot-Rot-Grün“ auf Bundesebene 2013 ist sowohl Illusionstheater als auch ein Unternehmen zur endgültigen Transformation der LINKEN in eine zweite sozialdemokratische Partei.

Fünftens:
Eine tragfähige Gegenmachtstrategie muss sich darauf konzentrieren die Klassenmachtverhältnisse zu Gunsten der Lohnarbeiterklasse zu verändern. Dazu gehören der parlamentarische, der außerparlamentarische und gewerkschaftliche Kampf um soziale und politische Verbesserungen sowie der Kampf gegen Sozialabbau und Kriegspolitik. Es geht darum, Anpassung zu stoppen, punktuelle Verbesserungen zu erkämpfen, über die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände aufzuklären. Die Losung der Regierungsbeteiligung ist als aktuelle Losung und praktische Politik derzeit ein politischer Irrweg, dessen Beschreiten Widerstand und Gegenwehr lähmt und unwirksam macht.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Schwäche der Gegenkräfte geht es zunächst darum im Sinne des Erfurter Programms vom November 2011 Kräfte zu sammeln, die mit der LINKEN gegebenen Ansätze von Klassenhandeln und linker Organisiertheit nicht zu schwächen, sondern auszubauen.

Konsequente Opposition als Abwehrkampf gegen die nach wie vor dominierende neoliberale Politik, gegen die anwachsende soziale Ungleichheit, gegen politische Verdummung und Kriegspolitik muss im Vordergrund stehen. Die Linke muss diesen Abwehrkampf mit einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik, mit einer Kritik der politischen und sozialen Zustände verbinden und das auch in Wahlkämpfen so sagen. Sie muss zeitgemäß die Verteilungsfrage, die Eigentumsfrage und die Machtfrage stellen. Wenn das von maßgebenden Politikern vertretene Konzept einer Verklärung von Regierungsbeteiligung als Hauptweg linker Politikgestaltung sich durchsetzt, wird es die LINKE des Erfurter Programms bald nicht mehr geben.

Die allgemeine Regel, dass die LINKEN um punktuelle soziale und politische Verbesserungen kämpfen muss, gilt dabei natürlich weiterhin. Sie müssen im kommunalen Bereich Positionen erobern. Sie müssen in ihrer parlamentarischen Arbeit flexibel sein, wenn es gilt, solche Verbesserungen zu ermöglichen (gegebenenfalls auch durch Tolerierung sozialdemokratisch geführter Regierungen). Ihre Forderungen in Wahlkämpfen aber müssen grundsätzlich sein und keinen Zweifel daran lassen, dass für eine wirkliche politische Wende die sogenannte 2rg-Strategie („Rot-Rot-Grün“) völlig untauglich ist, lediglich dazu führen wird, dass Die Linke ihre Alleinstellungsmerkmale verliert und sich in den herrschenden Politikbetrieb einordnet. Die Wegstrecke von einer Partei zur Lösung der Probleme hin zu einer Partei, die zum Teil des Problems wird, ist offenbar sehr kurz.

Ekkehard Lieberam

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