Die Affirmation der Widersprüche

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Zum Leitantrag „Berlin in Europa und der Region“. Von René Jokisch

Der Leitantrag „Berlin in Europa und der Region“ enthält zwar viel gutes und richtiges. Doch fallen neben einiger Längen im Text gravierende inhaltlichen Leerstellen auf, die kein Zufall sein dürften, sondern eine politische Aussage. Zwar sind viele linke Textpassagen mit richtigen Analysen und Forderungen im Antrag untergebracht. Doch insgesamt liest er sich leider wie eine Werbung für den Wirtschaftsstandort Berlin und für eine unkritische Regierungsbeteiligung der LINKEN, die zu oft in schlechter Management- und Marketingsprache geschrieben ist. Europapolitik kommt dabei nur wenig vor. Schon die Überschriften des Antrags erinnern eher an Werbeslogans als an politische Aussagen der LINKEN:

Berlin in Europa und der Region

 Europäisches Berlin;

,die Stadt, die anzieht;

die wächst;

in der Neues entsteht;

die nach vorn schaut.

Hauptstadt Berlin, gesellschaftlicher Seismograph.

Im Antragstext gibt es immer wieder Sätze, die an Merkels legendäres „Deutschland geht es gut“ erinnern und mit bevorstehenden gemeinsamen Anstrengungen garniert werden:

Berlin ist heute wieder eine durch und durch internationale und europäische Stadt, deren Charakter durch ein lebendiges Neben- und Miteinander von Alteingesessenen und Zugezogenen geprägt ist. Aus der einstigen „Werkstatt der Einheit“ ist tatsächlich ein Stück neues Deutschland entstanden. Vor allem im Herzen der Stadt sind Gebiete mit ganz eigener, neuer Identität und kultureller Prägekraft entstanden, die sich aus Vielfalt speist und in viele Richtungen hin offen ist …Widersprüchliche Prozesse kennzeichnen also die Entwicklung Berlins. Wir setzen auf die Potenziale einer bunten, kreativen, weltoffenen Stadt Berlin, die sich allerdings nicht im Selbstlauf, sondern unter schwierigen Bedingungen entfalten müssen… Wir sind uns der kritischen Zustände in unsere Stadt durchaus bewusst… Dennoch: Wir wollen unsere Kritik der Zustände mit dem Hervorheben jener Chancen verbinden, die sich für eine fortschrittliche und nachhaltige Entwicklung Berlins im Interesse und zum Nutzen der Berlinerinnen und Berliner bieten. …Berlin hat nur dann Entwicklungschancen, wenn es ein produktives Verhältnis zu den umliegenden Regionen herstellt. Nicht als Enklave, als Schaufenster, sondern als Partner, Zentrum, Impulsgeber. Damit werden Widersprüche, produktive Spannungen und Konflikte verbunden sein, die es auszuhalten gilt. … Berlin als das Leistungszentrum in Ostdeutschland, Berlin als europäische Hauptstadt des föderalen Deutschland, Berlin mit seiner Nähe zu Osteuropa, als Stadt des Friedens und der sozialökologischen Innovation – das wäre ein Projekt, an dem sich breite Teile der Öffentlichkeit beteiligen können und von dem alle profitieren, bei Wahrung der Eigenständigkeit und unterschiedlichen Identitäten. … Es geht darum, gemeinsame Interessen zu finden und gemeinsam wie arbeitsteilig dafür zu wirken.“

Der Antrag scheint in vielen Passagen weniger von linken Forderungen geprägt, als von der Partei DIE PARTEI mit ihrem Slogan „Inhalte Überwinden“. Inhaltliche betonte Differenzen zur Berliner SPD sind mir nicht aufgefallen. Auffallend ist dagegen, dass die Wohnungsnot nicht thematisiert wird, obwohl die Eurokrise durchaus etwas damit zu tun hat, das soziale Neubauprojekte durch (deutsches wie internationales) Kapital erschwert werden, das in Berlin nach sicheren und hochprofitablen Wertanlagen sucht. Das Refugee-Camp als gesamteuropäischer Knotenpunkt der politischen Migrationsbewegungen und aktuelle Auseinandersetzung in derStadt kommt nicht vor. Die Mobilisierungsversuche von Nazis gegen Flüchtlingsheime in Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick werden nicht erwähnt, dagegen wird gleich im ersten Absatz betont „syrischer Flüchtlinge werden in Pankow herzlich willkommen geheißen“. Wenn im Tagesspiegel ein Artikel „Danke, liebe Antifa!“ möglich ist, sollte doch auch DIE LINKE einen positiven Bezug herstellen können. Das Problem der Privatisierung wird nicht wirklich angesprochen, obwohl Privatisierungsdruck sowohl in Berlin als auch in der EU eine zentrale Rolle spielt. Nur das Renditeprinzip zu kritisieren, reicht nicht aus.

Der Antrag betont, dass die hohe Jugendarbeitslosigkeit in der EU nicht als Symptom behandelt werden kann, sondern die Ursachen der Misere bekämpft werden müssen. Welche Ursachen das sind, und wie sie zu bekämpfen wären? Gute Frage, nächste Frage.

Was wohl die Studierenden von der These halten, dass das Ziel des Bologna-Prozesses durch die Umsetzung der Reformen konterkariert wurde? Immerhin ist die Bologna-Reform bei den behaupteten bildungspolitischen Zielen der verbesserten internationalen Vergleichbarkeit und des vereinfachten akademischen Austauschs ebenso großartig gescheitert, wie sie die neoliberalen Zurichtung des Studiums nicht nur in Deutschland erfolgreich umgesetzt hat.

Erst im Abschnitt „Berlin als bürgerschaftliche, lebendige politische Metropole“ erreicht der Leitantrag das Thema Europapolitik im engeren Sinn. Es hat den Anschein, als wolle die Berliner LINKE ihre wohlbegründete Kritik der EU-Verträge und –Institutionen durch Platzierung auf Seite 14 in den Hintergrund stellen. Unmittelbar vor der Europawahl sollten die undemokratischen und neoliberalen Kritikpunkte stärker betont werden. Parteien, die die BürgerInnen mit ausufernden Europabekenntnissen über diese Defizite täuschen, gibt es bereits genug.

Die im Vorschlag von Katina Schubert und Thomas Barthel formulierten Anliegen erfüllt der Antrag daher nur zum Teil: Möglichst konkrete Anforderungen an eine soziales, weltoffenes Berlin und die Forderungen an die Berliner, Bundes und europäische Ebene werden nur selektiv formuliert. Als Baustein für den Zukunftsdialog „Soziales Berlin“, der als Vorarbeit zum Wahlprogramm zur Abgeordnetenhauswahl 2016 dienen soll, taugt der Antrag in meinen Augen auch nicht wirklich, da er ohne explizite Diskussion auf eine rot-rote Koalitionsorientierung hinausläuft, die im Landesverband noch zu diskutieren wäre. Zehn Jahre Rot-Rote Koalition in Berlin werden auch mit Privatisierungen von Wohnungen und Tarifflucht verbunden. PDS und DIE LINKE haben in der Koalition mit der SPD stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt, manche gute Forderungen im Antrag wirkt daher unvermittelt.

Beim vierten Anliegen, der Hilfe bei der Mobilisierung für die Europawahl, ist der Antrag allerdings gescheitert. Für normale und insbesondere der LINKEN aufgeschlossene BerlinerInnen dürfte der Text in Großteilen als kaum lesbarer, weithin unkritischer Werbetext aus Regierungsperspektive rüberkommen, so dass sich die Frage stellt, wer die Zielgruppe des Antrags ist.

Vielsagend wird genau auf der letzten Seite die „soziale Frage“ angesprochen, die jedoch „als zentrale Teilhabefrage im Mittelpunkt unserer Politik“ stehen soll. Der Text steckt voller solcher Widersprüche, ja läuft letztlich auf die unkritische Affirmation der Widersprüche hinaus, da er einerseits zahlreiche Probleme anspricht, aber entscheidende politische Probleme ausblendet und letztlich auf die positiven Potenziale und maßgeblich auf konsensorientierte Lösungen fokussiert.

So werden im Text 14 mal „Innovationen“ abgefeiert und „Potenziale“ sieht man fast 20 mal im Text, also praktisch überall in Berlin. Die (produktiven) Widersprüche Berlins sind auszuhalten. Werden sie dann doch mal „ausgetragen“, dann doch bitte in Bürgerhaushalten, runden Tischen und anderen Instrumenten, die das „Potenzial innovativer Teilhabeformen“ haben. Das BürgerInnen das „Gefühl“ haben von Politik und Verwaltung nicht ernstgenommen zu werden, wird noch zugestanden: Eine Kritik an der Durchsetzung aktueller Stadtplanungsprojekte und wirkungsloser pseudo-Beteiligung an Runden Tischen bleibt aus. Dafür dürfen die Hauptstädterinnen und Hauptstädter am Ende des Textes mit ihrer „Aktivität“, ihrem „Mitteilungsbedürfnis“, ihrem „Druck“ und ihrer „Inspiration“ dafür sorgen, dass Berlin Sensor für gesellschaftliche Entwicklungen und damit wirklich Hauptstadt werden kann.

Inwiefern Berlin im weiteren Verlauf der europäischen Krise wie in den 20er und 60er Jahren zu einem herausragenden Pol linker und linksradikaler Bewegung und Politik in Deutschland und Europa werden könnte, spielt für den Antrag keine Rolle. Dabei ist es doch kein soziologisches Geheimnis, das linke Parteien in Großstädten nicht nur besonders große Wählerpotentiale haben können, sondern auch bewegungspolitisch und kulturell bedeutende Impulse für das ganze Land unterstützen könnten. Die linke Szene in Berlin spielt für die gesamte BRD und Europa eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Dass die LINKE in Berlin aufgrund ihrer Regierungsbeteiligung und als auf Regierung orientierter Landesverband die letzten Jahre nur mühsam etwas Vertrauen bei Bewegungen zurückgewinnt, und hier noch Handlungsbedarf besteht, steht nicht im Antrag. Denn die Strategie der Verfasser scheint vor allem auf jene Menschen im „Herzen der Stadt“ zu zielen, die als eher wohlhabende, gebildete Aufsteiger zu den Gewinnern der Entwicklung nach 1989 gehören. Doch nicht für alle Menschen gilt: „Berlin … hat von der Entwicklung nach 1989 enorm profitiert“.

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