Die Hoffnungen sind da – die politische Substanz weniger

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Zur Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten von Thüringen. Von Thies Gleiss

1.
Bodo Ramelow ist nach erfolgreichen Koalitionsgesprächen mit der SPD und den Grünen zum Ministerpräsidenten einer Dreiparteien-Regierung in Thüringen gewählt worden. Die LINKE ist mit 28 Prozent Wählerstimmen die zweitstärkste Partei im Land und hat mehr Stimmenprozente, aber auch Mitglieder und realen gesellschaftlichen Einfluss als die beiden Koalitionspartnerinnen zusammen. Eine linke Partei mit diesem Zuspruch und Einfluss muss selbstverständlich jede, auch kleine Chance aufgreifen, Politik im Sinne ihres Programms und der Interessen ihrer WählerInnen und Mitglieder verantwortlich umzusetzen. Jede andere Haltung wäre eine unpolitische Flucht, letztlich auch vor sich selbst. Wir gratulieren Bodo Ramelow zu diesem Mut zur Entscheidung und zu dem jetzt erzielten Wahlerfolg.

2.
Die Wahl von Bodo Ramelow reiht sich ein in die Folge von politischen Besonderheiten, ja Kuriosem, die im kapitalistischen Deutschland seit dem Ende der Sowjetunion und der DDR im Zusammenhang mit der LINKEN passierten. Eines der merkwürdigen Resultate des Endes des bürokratischen „Feudalsozialismus“ – wie Robert Havemann die Verhältnisse in Osteuropa und der DDR einst nannte – war in Deutschland die Tatsache, dass in dem Musterländle der kapitalistischen West-Orientierung, einem Land mit Nato-Begeisterung und dem Antikommunismus quasi als Staatsreligion, urplötzlich die größte linke Partei der kapitalistischen Staatenwelt existierte. Eine Partei, die sich auf die „Bösewichter“ der deutschen Geschichte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg beruft, die jedes Jahr im Januar eine der größten Aufmärsche von Linken zum Gedenken an die revolutionäre Arbeiter*innenbewegung organisiert – und dies in direkter , aber frecher und autonomer Fortsetzung der elenden Selbstinszenierungen der SED-Bürokraten. Eine Partei, die in ihrem Programm den Sozialismus und die Vergesellschaftung der großen privaten Unternehmen fordert.
25 Jahre später gibt es diese Merkwürdigkeit einer linken Massenpartei im eher rechten und nach rechts driftenden gesellschaftlich-politischen Gesamtumfeld immer noch. Allerdings sind von den ehemals 2 Millionen SED-Mitgliedern nur noch 16.000 in der LINKEN – die übrigen sind, sofern sie noch leben, eher bei den Eliten, Parteien und Institutionen der heutigen Herrschenden untergekrochen, wenn nicht sogar bei neuen rechten Vereinen oder haben ihr Auskommen in Einsamkeit und ohne politische Macht gefunden. Die LINKE ist mittlerweile ein Zusammenschluss von ost- und westdeutschen Linken und trotz aller Anstrengungen und Verteufelungen gelingt es den Herrschenden von heute und ihren Medien nicht, den Massenanhang dieser Partei und ihre parlamentarische Vertretung zu zerschlagen.
Die DDR war nicht sozialistisch. Sie war auch nicht mehr Unrechtsstaat als die BRD in Westdeutschland und viele mit diesem verbündete und geförderte Staaten, eher weniger. Ob sie ein bewusster „Sozialismusversuch“ war oder nicht doch von vornherein von Leuten gelenkt wurde, die das nicht mehr zum Ziel hatten, kann beherzt diskutiert werden. Auf jeden Fall ist die DDR reale Geschichte von realen Menschen, die bis heute einen großen Teil ihrer Interessen bei der LINKEN aufgehoben sehen. Zum Glück für die LINKE begreift der größte Teil der bürgerlichen Konkurrenzparteien diesen Umstand bis heute nicht.
Insbesondere in den ostdeutschen Ländern ist die LINKE deshalb wahrscheinlich die organisatorisch stärkste Partei und sie verliert bei Wahlen eigentlich nur durch eigene Dummheit und völlig unnötiges Anpasslertum an Zuspruch und nicht durch die Attraktivität ihrer Gegner. Die LINKE hat dort Stammwähler, die leider aufgrund des liquidatorischen Kurses einiger der Parteispitzenleute immer mal wieder und immer mehr zu Hause bleiben.

3.
Die LINKE und Bodo Ramelow haben in Thüringen auf diese Weise die Rolle als Mehrheitspartei der neuen Regierung gewonnen. Die LINKE hat bei den Wahlen in Thüringen allerdings an absoluten Stimmen verloren. Ein beträchtlicher Teil ihrer WählerInnen ist sogar zur rechtsnationalistischen AFD gewechselt. Die CDU hat ihre Positionen halten können. Und eine sowieso nicht gerade „linke“ SPD hat ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt eingefahren. Es gab und es gibt also bis heute keine sogenannte „Wechselstimmung“ im Land und der gesamte, personalisierte und von politischen Inhalten, allen voran den „radikalen“ Inhalten, bereinigte Wahlkampf von Bodo Ramelow hat auch viel dafür getan, genau diese Wechselstimmung gerade nicht zu erzeugen. Die Pose „Ich der bessere Lieberknecht“ war ähnlich fade wie die entsprechende Haltung von Peer Steinbrück für die SPD im Bundestagswahlkampf „Ich der bessere Merkel“.
Trotzdem ist die LINKE in die Rolle, als Mehrheitskraft eine neue Koalition zu schmieden, hinein gewählt worden. Eine unpolitische und atomisierte Bevölkerung, die in der Masse eher die rechten Parteien trägt, sofern sie überhaupt zur Wahl geht, aber zugleich eine linke Partei als Mehrheitskraft bei der Regierungsbildung, die ihr Glück nicht fassen kann und diese Situation des „Du-hast-keine-Chance-aber-du-musst-sie nutzen“ leider nicht in einer Flucht nach vorn, sondern in inhaltlicher Entleibung aufgelöst hat – das ist das etwas bizarre Ergebnis der Thüringenwahl.

4.
Im engeren Umfeld der Partei DIE LINKE, aber vor allem in ihrer Mitgliedschaft, hat die Chance, in Thüringen nicht nur Regierungspartei, sondern darin Mehrheitskraft zu sein und den Regierungschef zu stellen, euphorische Emotionen ausgelöst. Leider haben diese Emotionen nicht zu einem stärkeren inhaltlichen Selbstbewusstsein der Partei geführt, sondern nur zu der unpolitischen Haltung, „jetzt muss es aber klappen, egal, was es kostet“. Die Partei hat offensichtlich ihren Verstand ausgeschaltet und die glückliche, einmalige Situation in Thüringen nicht etwa zur Stärkung von linken Positionen genutzt, sondern zu deren Abflachung und vorauseilender Preisgabe, nur um den möglichen Regierungsantritt nicht zu gefährden. Ob daraus – wie schon so oft bei linken oder auch nur links blinkenden Parteien gesehen – ein klassischer Selbstmord aus Angst vor dem Tod wird, ist noch nicht entschieden.
Die gemeinsame Stellungnahme zur DDR, die „Präambel“ zum Koalitionsvertrag von LINKE, SPD und Grüne, ist das sichtbarste Zeichen dieser Anpassung mit womöglich tödlichem Ausgang. Sie hat unnötigerweise der Mehrheitskraft in der neuen Regierung gleich mal das Schild „Wir sind die Schuldigen“ umgehängt und den beiden Juniorpartnerinnen das Etikett „Wir sind die guten Aufpasser“. So etwas ist schon fahrlässiger Umgang mit der realen Geschichte der DDR von der die heutige LINKE ja ein reales Ergebnis ist. Selbstverleugnung hat noch nie genutzt, ebenso wenig wie die Begleitmusik an Entschuldigungen und Distanzierungen.

5.
Die versammelte Front der politischen Gegner und ihre ideologischen Krieger in den großen Medien haben diese inhaltliche Entleibung und Selbstkasteiung der LINKEN in Thüringen mit Freude aufgegriffen. Die Koalitionsverhandlungen und Sondierungen gaben inhaltlich nichts her, also konnte genüsslich die gefühlt hunderttausendste Aufführung der antikommunistischen Volksoper und auf allen Kanälen gleichzeitig abgefeiert und abgefeuert werden. Natürlich wäre das in jedem Fall passiert und ist ein untrügliches Zeichen der wahren politischen Verhältnisse im vereinigten Deutschland, aber wer so agiert wie die LINKE in Thüringen, der oder die muss sich nicht wundern, dass auch noch die lächerlichste antikommunistische Bananenflanke ihren Weg ins Tor findet. Wie schön wäre es doch gewesen, das aufgebrachte Bürgertum hätte sich über eine echte linke „Gefahr“, über den wirklichen Politikwechsel in Thüringen aufgeregt – und nicht nur auf die selbstgezimmerten Pappmachekrokodile ihrer eigenen Kasperbuden eingedroschen.
Wir nehmen unsere Genossinnen und Genossen in Thüringen und Bodo Ramelow aber selbstverständlich auch vor diesen Operettenangriffen in Schutz und erklären unsere Solidarität. Die sich in den letzten Tagen manchmal abzeichnende ekelhafte antikommunistische Allianz von SPD-Maulhelden bis Neonazis ist schrecklich, aber sie beweist auch, dass es in Gesamtdeutschland noch weniger eine politische Basis für „Rot-Rot-Grün“ gibt als in Thüringen.

6.
Die neue Regierung in Thüringen steht. Dass die LINKE mit handzahmen Personen aus dem FdS-Spektrum vertreten ist, war zu erwarten. Dass aber die freiwillig gewählte Rollenaufteilung „Wir sind die Schuldigen“ und „Wir sind die Aufpasser“ auch bei den Ämterverteilungen zum Ausdruck kommt, ist wohl nur damit zu erklären, dass Bodo Ramelow auch im engsten Sinne als Geschäftsführer einer Verwaltungstruppe namens Regierung Angst vor „Abweichlern“ hat. Tatsache ist, dass die SPD mit Wirtschafts- , Finanz- und Innenministerium, und die Grünen mit dem Justizministerium die wichtigen pragmatischen und Kontrollinstanzen verwalten werden.
Der Koalitionsvertrag, der als Arbeitsprogramm dieser neuen Regierung ausgehandelt wurde, ist ein typisches Papier, wie es in beliebigen Koalitionsverhandlungen ausgehandelt wird: Ein pompöses Bekenntnis zur bestehenden Wirtschaftsordnung, zur Mittelstands- und Kleinkapitalistenförderung, zu Behördeneffizienz und allgemeiner Verantwortung für Wachstum und Fortschritt. Dazu – so viel hat Nils Böhlke für Marx21 gezählt – ganze 123 „Prüfversprechen“, also vage und unverbindliche Ankündigungen. Am spannendsten ist dabei sicherlich die Prüfung der Einführung eines fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehrs. Das ganze wie gewohnt unter dem Finanzierungsvorbehalt und eingerahmt vom Bekenntnis zur Schuldenbremse. Schon am Nachmittag nach der Wahl von Ramelow verkündete die SPD, sie sehe ihre Aufgabe vorrangig darin, die Einhaltung der Schuldenbremse zu überwachen. Das kann heiter werden. Es wird – eine der wenigen konkreten Ankündigungen – ein gebührenfreies Kita-Jahr geben. Aber brauchte es dafür einen linken Ministerpräsidenten? Ansonsten sind die bildungspolitischen Inhalte des Koalitionsvertrages erstaunlich dürr – wenn man bedenkt, dass sonst landauf und landab die große Schnittmenge von „Rot-Rot-Grün“ in der Bildungspolitik beschworen wird. Es wird weder das Gymnasium in Frage gestellt, noch das Projekt „Eine Schule für alle“ angepackt. 500 neue Lehrerstellen werden geschaffen – etwas mehr will die „schwarz-rote“ Koalition im Nachbarbundesland Sachsen neu einstellen.
Der öffentliche Dienst soll nicht verschlechtert werden. Das ist nicht gleichbedeutend mit „soll nicht abgebaut werden“ und schon gar nicht mit der aus linker Sicht eigentlich unerlässlichen Verbreiterung des öffentlichen Dienstes. Von allen öffentlichen Diensten sollen vor allem die V-Leute beim Verfassungsschutz eingeschränkt werden. Das ist gut, aber die Äußerung vom neuen Ministerpräsidenten, die Auflösung der geheimen Dienste stände in den nächsten fünf Jahren nicht an, verblüfft doch sehr. Wann, wenn nicht jetzt, auf Grundlage der fürchterlichen Erfahrungen mit dem NSU-Sumpf, soll denn eine solche im besten Fall überflüssige, aber meistens sogar gefährliche Behörde abgeschafft werden?
Von einer links dominierten Regierung wäre eigentlich zu erwarten, dass beim Thema „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ wirkliche Leuchttürme des Politikwechsels gesetzt werden. Aber der Koalitionsvertrag in Thüringen ist in dieser Hinsicht „harmloser“ als die harmlosen Arbeitsgrundlagen der SPD-Grüne-Regierungen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Das betrifft die Überlegungen zu einem landesweiten Mindestlohn für Staatsaufträge, das Tariftreuegesetz oder gar eine neue Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst.
Zum aktuell heiß diskutierten Thema Freihandelsabkommen TTIP und CETA hat sich in Thüringen die SPD vollständig durchgesetzt. Wie zum Hohn begleitet Wirtschaftsminister Gabriel die vagen Thüringer Erklärungen, dass sich nichts verschlechtern darf, fast zeitgleich mit seiner Politik der vollzogenen Tatsachen.
Es gäbe eine Reihe von Möglichkeiten (nicht nur die TTIP-Debatte), mit denen eine neue linke Regierung Profil und Ausstrahlung in andere Länder zeigen könnte, und die trotzdem nichts kosten. Aber nichts davon findet sich im Koalitionsvertrag.
Werden jetzt antifaschistische Strukturen im Land signifikant gestärkt?
Wie sieht die neue Flüchtlingspolitik aus? Wie die Unterbringung und die polizeilichen Überwachungen? Kommt die Quotierung und andere beispielhafte Frauenförderung? Wird es eine neue Politik gegen Homophobie geben oder knickt Thüringen wie andere Bundesländer vor der schwarzbraunen Meute ein? Werden Werbeaktionen von Jugendoffizieren der Bundeswehr an Thüringer Schulen unterbunden? Gibt es in den öffentlichen Betrieben und Behörden in Thüringen jetzt bald mehr und bessere Mitbestimmung? Und vieles weitere mehr.

7.
Jetzt wird in der Öffentlichkeit und natürlich im Umfeld der LINKEN laut gerufen: Gebt der neuen Regierung und Bodo Ramelow eine Chance. Daran soll es unsererseits nicht mangeln, es ergibt sich nach Lektüre des Koalitionsvertrages und bei Betrachtung der neuen Regierungstruppe aber die berechtigte Frage: Hat Bodo Ramelow und seine Regierung überhaupt eine solche Chance ergriffen oder wird er sie ergreifen? Zur Zeit sieht es danach nicht aus, sondern eher nach einem mühsam zusammen geschustertem Räderwerk, das einzig und allein dazu dient, sich selbst ein wenig in Bewegung zu halten und jegliche Störer, Störungen und Sand im Getriebe zu vertreiben.
SPD und Grüne trommeln gleichzeitig in allen anderen Teilen der Republik, dass die Duldung eines – wirklich nur Duldung, das darf nicht vergessen werden – Ministerpräsidenten der LINKEN nur in Thüringen und nicht anderswo, schon gar auf Bundesebene möglich sei. Es gibt wahrlich bessere Begleitmusik zu einer neuen Koalition, die angeblich eine Zäsur für die deutsche Geschichte darstellt.
Es ist zu befürchten, dass insbesondere die SPD – die Grünen haben sowieso schon die völlige Beliebigkeit bei der Wahl ihrer Koalitionspartnerinnen zum Prinzip erhoben – die Koalition in Thüringen nicht sehr ernsthaft verfolgen, sondern durch übergeordnete, kurzfristige Interessen, die Konkurrenz der LINKEN vorzuführen, schnell preisgeben wird. Die LINKE täte gut daran, sich auf diese Generalumstände und ihre mögliche schnelle Änderung einzustellen.

Thies Gleiss ist Mitglied im Bundessprecher*innen-Rat der Antikapitalistischen Linken.

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