Der kleine Beitrag zum großen Projekt

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Wie ein Landesverband NRW der LINKEN aufgestellt sein sollte. Von Thies Gleiss

Die LINKE-NRW ist sieben Jahre alt, das gesamte Parteibildungsprojekt der Vorläuferorganisationen WASG und PDS läuft bereits sein einem Jahrzehnt. Der Landesverband NRW hat knapp 8000 Mitglieder und ist nach Mitgliedern der zweitgrößte Landesverband der LINKEN. Ich habe dieses erste Jahrzehnt einer neuen linken Massenpartei in Deutschland vom ersten Tag an mit gestaltet.  Als aktives Mitglied im Kreisverband, als Mitglied vom (Bundes)Parteivorstand und Landesvorstand, als stellvertretender Landessprecher NRW, als Bundessprecher der politischen Strömung „Antikapitalistische Linke“ und vor allem als Botschafter der linken Idee in der Gewerkschaftsbewegung und vielen anderen Mobilisierungen sowie im täglichen Kleinkrieg als Interessenvertreter und Betriebsratsvorsitzender in der Metallindustrie.

Mein Fazit nach diesen zehn Jahren ist zwiespältig:

Die LINKE hat kaum Ausstrahlung, schon gar nicht auf junge Menschen. Sie setzt keine Themen und schon gar keine klare und in jeder tagespolitischen Situation erkennbare Opposition. Sie wird als abhängige Größe wahrgenommen, ohne Eigengewicht, abhängig von den Themen anderer, vom Wohlwollen der Medien (und wann sind die schon mal wohlwollend?)  und der Tagesform ihrer „Prominenten“. Sie ist in dieser Hinsicht  im Schlepptau der anderen Parteien und eifert ihnen selbst dann nach, wenn die Inhalte eigentlich eine scharfe Abgrenzung erfordern.  Trotz tiefer Krise des bürgerlichen EU-Projektes, trotz scharfer Krisenfolgen in den südlichen EU-Ländern, leistet sich die LINKE eine EU-Debatte, die auf Anerkennung bei diesen in die Krise geschlidderten Pro-EU-Kräften zielt. Trotz erneuter Kriegs- und Militarismusszenarien in Syrien, Türkei, Ukraine haben einflussreiche Kräfte in der  LINKEN  kaum mehr im Sinn, als ihre Anti-Kriegspositionen Mainstream-kompatibel zu machen und Schrittchen für Schrittchen aufzuweichen.

Der Landesverband NRW, der anfänglich maßgeblich das Image der LINKEN als neue und andere Partei mitgeprägt hat, ist weit von den Möglichkeiten eines Verbandes von knapp 8000 Mitgliedern entfernt. Der Großteil seiner Kräfte versickert im kommunalen Parlamentsgeschehen.  Die zentrale Kritik der LINKEN, dass die kommunale Selbstverwaltung in ihrer jetzigen Form ein Hohn ist, die finanziell ausgedörrt wird und deren Gewählte am ausgestreckten Arm der kommunalen Verwaltung zappeln, wird durch diese Praxis jeden Tag selbst als unernst denunziert. Die LINKE  beteiligt sich unkritisch und ergeben an einer parlamentarischen Spielwiese, die zurecht von fast Zweidrittel der Menschen nicht ernst- und kaum wahrgenommen wird. Die wenigen Erfolge dieser kastrierten und auf Parlamentshamsterräder fixierten kommunalen Arbeit werden durch haarsträubende und sich jeder Kontrolle der Basis entziehende Fehlentscheidungen (wie in Duisburg) karikiert und durch nervende Streitereien um Pöstchen und Geld, in denen selbst Eingeweihte keine politischen Fragen mehr erkennen können, überlagert. Auf kommunaler Ebene wird die LINKE in NRW (in den anderen Bundesländern leider eher noch mehr) als eine derart stinknormale Partei wahrgenommen, wenn sie überhaupt wahrgenommen wird, dass es schmerzt.  Diese Art der kommunalen Arbeit ist leider ein einziger Verriss und Verrat an der großen politischen Aufgabe, die Menschen in neue Formen der Solidarität und gemeinschaftlichen Lebens in der Kommune, dort wo sie leben und lieben, zu führen – wie sie in den hehren Begriffen Solidarität, Sozialismus wenn nicht gar Kommun-ismus anklingen. Diese Art der kommunalen Arbeit führt nicht näher an eine sozialistische Überwindung des Kapitalismus und das dafür notwendige politische Bewusstsein von Millionen von Menschen heran, sondern von ihr weg, zugunsten einer billigen Stellvertreterpolitik.

Viele, die vor zehn Jahren mit mir dabei waren, haben uns leider schon wieder verlassen. Die, die neu hinzugekommen sind, haben leider kaum Kritik an dieser Entwicklung mitgebracht, sondern allzu häufig ihre politische Bestimmung gerade in dieser „normalisierten“ Partei gesehen.  Deshalb muss sich in diesem Landesverband auf allen Ebenen sehr viel ändern, will er eine Zukunft als linke Partei haben. In der Praxis in den Kreisverbänden, bei den Mitgliedern und wie sie sich organisieren, bei den Landesarbeitsgemeinschaften, dem Landesvorstand und dem Landesrat und auch den formalen Strukturen wie Statuten der Partei – alle Teile sollten kritisch überprüft und weiterentwickelt werden. Das geht vielleicht nicht alles sofort, aber das Problembewusstsein dafür muss schnellstens entwickelt werden.

Auf der anderen Seite drückt sich immer wieder in den täglichen kleinen und großen pollitischen Auseinandersetzungen aus, dass eine wachsende Zahl an Menschen eine linke, sozialistische und radikal-andere Partei wünscht und in der einen oder anderen Form bereit ist, sie zu unterstützen oder wenigstens zu wählen. Wir haben also eine große Erwartungshaltung aufzugreifen und Verantwortung zu übernehmen.

Ich werde auf dem nächsten Landesparteitag noch einmal als stellvertretender Landessprecher und für den Landesvorstand  kandidieren, um meinen kleinen Beitrag zu Erlangung dieses Problembewusstseins zu leisten. Die LINKE als laut- und meinungsstarke Partei, als Alternative zum Kartell der den Kapitalismus verwaltenden Altparteien, ist bitter nötig. Ich selbst will sie und brauche sie für die tägliche Arbeit in Betrieb und Gewerkschaft.  Aber ich will mit aller Klarheit gewählt werden, dass die Bauelemente dieses Landesverbandes neu aufgestellt und zu einem neuen politischen Angebot als radikale, antikapitalistische und sozialistische Partei zusammengebaut werden müssen. Eine Partei  wie die, zu der sich die LINKE immer mehr entwickelt hat, will ich nicht und das Land braucht sie auch nicht. Gleichzeitig bin ich optimistisch, dass die LINKE diese notwendigen Änderungen noch vollziehen kann – wenn sie es will.

 

1. Wo sind die Mitglieder?

Nichts ändert sich, wenn wir es nicht selbst machen.  Deshalb müssen bei einer Neuaufstellung des Landesverbandes die Mitglieder im Mittelpunkt stehen und sonst erst einmal gar nichts. Keine abstrakten parlamentarischen Möglichkeiten, keine historischen Missionen oder merkwürdige Kleinaufträge, die von den großen Medien uns entgegengebracht werden sind wichtiger als die realen Erwartungen und Möglichkeiten unserer Mitglieder. Aber wo sind eigentlich unsere 7800 Mitglieder? Wo arbeiten sie, wo gehen sie zur Schule oder Universität, wo verbringen sie ihre Freizeit, wo sind sie persönlich neben der LINKEN engagiert? In welchen Betrieben, Gewerkschaften, Stadtteilen schlummert das wirkliche Potenzial der LINKEN – und niemand nimmt es wahr und setzt es ein?

Überall läuft unsere Parteiarbeit nach dem gleichen Muster ab: Die Parteivorstände oder andere vorpreschende Strukturen schlagen irgendein Projekt vor, dass superwichtig sei. Die Wichtigkeit wird ausschließlich durch Äußerlichkeiten begründet – die Medien wollen es so, ein angebliches rot-rot-grünes Lager  oder allgemeiner: die politische Lage erfordert es, der politische Gegner zwingt es uns auf oder ähnliche Konstruktionen. Sehr passend für ein solches Politikverständnis sind Wahlkämpfe. Die sind die Konzentration all der Äußerlichkeiten in einem kurzen Zeitraum, verbunden mit dem unschätzbaren Vorteil, dass alles übersichtlich, begrenzt, vergleichbar und ökonomisch zu bewältigen ist. Deshalb stürzt die LINKE fast immer in eine besondere Krise, wenn es keine Wahlkämpfe gibt.

Solche nur äußerlich begründeten Projekte werden den Mitgliedern angetragen und darum gebeten, sich doch daran zu beteiligen. Da wird fast immer nur eine Einbahnstraße vorgeschlagen: Die Mitglieder sollen sich zu diesen Projekten hinbewegen und gefälligst mitmachen. Das passiert leider immer nur bei einer Minderheit , sogar einer relativ schwindenden Minderheit der Mitglieder. In allen Kreisverbänden entwickelt sich eine reale Mehrheit von nur als Kartei erfassten Mitgliedern. In meinem Kreisverband Köln sind es mindestens sieben Achtel der Mitgliedschaft, eher noch mehr.

Eine Partei, eine linke allemal, deren große Mehrheit der Mitglieder nicht in die aktive Arbeit und deren Grundlegung einbezogen ist, kann niemals demokratisch sein. Jede politische Festlegung ist dann nämlich eine Spekulation, ob die schweigende Mehrheit es auch so will. Jede Debatte im Kreisvorstand oder ähnlichen Strukturen ist dann ein mal mehr, mal weniger kurioser Streit der Spekulanten. Es ist klar, die politische Arbeit einer linken Partei ist immer ein gutes Stück eine Art Spekulation, dass die Themen, die Fragen und Antworten die von der Partei aufgegriffen werden, von den Menschen auch so gesehen und verstanden werden und dass sie den historischen Zeitumständen auch gerecht werden. Die zusätzlich spekulative Einbeziehung der Mitgliedschaft bei der Entwicklung der Politik ist dagegen grundsätzlich vermeidbar, ist eine selbst gewählte Quelle vieler Fehler und Streitereien.

 

2. Kartographie der Mitgliedschaft

Das erste, was im Landesverband und den Kreisverbänden deshalb erfolgen sollte, ist eine genaue Erfassung der Mitglieder. Ohne die Prinzipien der Freiwilligkeit und auch des Datenschutzes zu verletzen, ist eine umfassende Kartographie der Mitgliedschaft möglich und erforderlich. Wo leben und arbeiten die GenossInnen? Wie kann eine Partei dabei nützlich sein, in den 7800 persönlichen Umfeldern der NRW-Mitgliedern, unsere programmatischen Positionen zu verbreitern, aufzuklären und neue UnterstützerInnen zu gewinnen?

Das praktische Ergebnis dieser Erkenntnis wird eine deutlich kleinräumigere Organisierung unserer Mitglieder sein können und müssen. Es werden sehr kleinräumige Strukturen nach Wohnort, in großen Kreisverbänden Stadtteil- oder gar Straßengruppen oder nach Beschäftigung sein. Aus übergeordneten politischen Gründen sollte eine linke Partei, ihre Mitglieder dort, wo es möglich ist, in Betriebsgruppen organisieren. Dort verbringen die entsprechenden Mitglieder einen großen Teil ihrer Zeit und gleichzeitig sind die ökonomischen Abläufe in den kapitalistischen Betrieben das  Herz und Kreislaufsystem der gesamten Produktionsverhältnisse. Wer in sie verändernd eingreifen will oder wer sie, um ökonomischen und politischen Druck auszuüben, auch mal lahmlegen will, der benötigt betriebliche Strukturen.  Im Mittelpunkt unseres gesamten Organisationsmodells muss die Stärkung der direkten menschlichen Kommunikation und Zusammenarbeit sein. Unter den Mitgliedern und mit den Menschen in unserem Umfeld. Unsere Politik braucht wirkliche Gesichter und persönliche Geschichte, sie braucht Subjektivismus.  Das ist das genau umgekehrte Modell zu dem, sich in Wahlkämpfen, Talkshows und Flyern ein synthetisches, oder gar von anderen Kräften gemaltes Gesicht zu geben, das womöglich auch noch an Laternenpfählen aufgehängt werden kann.

Die Bildungsarbeit und Hilfe bei der Erstellung von Werbe- und Mobilisierungsmitteln müssen diesem Konzept vollständig entsprechen. Sie müssen in den kleinräumigen Strukturen entstehen und abgerufen werden, von „oben“ sollte dazu nur technische und materielle Hilfe gegeben werden. Im Ergebnis wird das eine deutlich dezentralere und in den konkreten Inhalten und Designs auch wesentlich buntere und differenziertere Darstellung und Selbstdarstellung der Partei sein. Gleichzeitig ist das eine Präsentation, in der der Beitrag  der Mitglieder immer erkennbar und veränderbar ist, sie ist sozusagen handgemacht und keine aufgesetzte Industrieware.

Der enge Bezug zum wirklichen Umfeld der Mitglieder wird die Auswahl der Themen bestimmen: Konkrete Hilfen bei betrieblicher Arbeit, bei Betriebsratswahlen, für Aktionen an der Schule oder in der Uni, bei Anträgen an kommunale Vertretungen oder bei Delegiertenversammlungen der Gewerkschaften, Nachbarschaftsflugblätter und Hilfen bei Mietervertretungen oder Vereinsarbeit.  Es bedarf nicht viel Vorhersagekraft, um festzustellen, dass sich die Themen heute und in weiterer Zukunft um die Fragen Betrieb und Ausbildung, Wohnung, Verkehr, Alltagsumwelt, Schule- und Kinderausbildung sowie Gesundheitsversorgung drehen werden.  Es wird die Aufgabe von übergeordneten Parteistrukturen – Landesvorstände und deren Apparat, (Bundes)Parteivorstand und dessen großer Apparat im Karl-Liebknecht-Haus – sein, zu ausgewählten politischen Großthemen die Verbindung zu dieser Kleinräumigkeit herzustellen.  Wird diese – zur heute in der LINKEN gängigen genau umgekehrte – Blickrichtung eingehalten, dann wird sofort klar, dass die „große“ Politik nicht in Form von Regierungsoptionen oder gar Regierungsspielen, nicht in Form von gesellschaftlichen „Lagern“ daherkommt, sondern sehr bewegungs- und Interessen orientiert sein wird, weil sie andernfalls die notwendige Nähe zur Kleinräumigkeit und zu den Mitgliedern gar nicht erreichen kann.

Ich persönlich halte die hier knapp beschriebenen kollektiven Prozesse der Erkenntnis und der Bewusstwerdung der Menschen sowie des Lernens im Widerstand und im Aufbau von – wenn auch manchmal nur kleinsten – Strukturen der Gegenmacht, für die entscheidenden Vorgänge, wenn das große Ziel die Überwindung des Kapitalismus ist, oder in anderen Worten: Wenn die großen politischen Fernziele mit der alltäglichen Politik von heute verbunden werden sollen.  Trotzdem haben die modernen Kommunikationsmittel rund um das Internet die individuelle Seite des Lernens und Bewusstwerdens außerordentlich gestärkt und neue Wichtigkeit verliehen.

Deshalb sind die sogenannten „sozialen Netzwerke“ nach meiner Meinung die am meisten überschätzten Medien der politischen Arbeit einer linken Partei, aber sie sind natürlich massiv vorhanden und deshalb wichtig. (Das sind sie natürlich auch und viel mehr als ein großes politisches Thema des möglichen Ausbaus der Massendemokratie, der an der harten kapitalistischen Realität und den privaten Interessen der Internet-Konzerne scheitert). Deshalb müssen selbst kleinräumige Strukturen die Internetarbeit lernen und ausbauen. Aber auch da sollte die Richtschnur sein, möglichst viele Mitglieder und AnhängerInnen zu befähigen, sich in diesen Medien als selbstbewusster und links-revolutionärer Teilnehmer oder Teilnehmerin zu bewegen. Das ist wichtiger als die in der LINKEN heute so gepflegten Sekundärtugenden, möglichst zentral gesteuert und optisch einheitlich im Internet aufzutreten. Eine solche auf Schein und willige Konsumierbarkeit bei Mitgliedern und Interessierten abgestellte Netzaktivität beschneidet sich ausgerechnet an den dynamischen Teilen, die mit der Arbeit im Internet verbunden sind.

 

3. Wahlkämpfe oder Wahlkrämpfe

Die LINKE nimmt an Wahlen zu Parlamenten in der Kommune, im Land und auf Bundes- und Europaebene teil – und das ist gut so.  In Wahlkämpfen ist eine kompakte Selbstdarstellung der Partei möglich und Mandate in Parlamenten geben eine mehr oder weniger materiell unterstützte Möglichkeit, täglich die Vorstellungen der Partei in praktische Politik umzusetzen. Millionen von Menschen blicken auf diese Ebene der Politik, auch wenn die Legitimationskrise der kapitalistischen Herrschaft insgesamt wächst und immer mehr Menschen die Teilnahme an Wahlen verweigern. So weit so richtig.  Trotzdem kann nicht oft genug auf drei linke Grundwahrheiten hingewiesen werden:

Erstens ist der bürgerliche Parlamentarismus eine zwar teure, aber höchst effektive Form, aufmüpfige und sozialkritische Parteien (oder auch nur einzelne solche Abgeordnete) zu disziplinieren, zu korrumpieren und zu domestizieren. Seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts – in deren Folge prinzipiell auch linke und Arbeiterparteien in die Parlamente einziehen konnten und einzogen – ist das die lehrreiche Erfahrung mit Dutzenden von reformerischen, linken, selbst anfänglich revolutionären Parteien.

Zweitens gibt es aus diesem Grund keine parlamentarische Lösung der Krise des Kapitalismus und Einlösung der Interessen der Millionen von Lohnarbeit direkt oder indirekt abhängigen Menschen. Die grundlegenden Herrschafts- und Machtstrukturen werden im Parlament nicht in Frage gestellt, die ihnen zugrunde liegenden Besitzverhältnisse werden nicht verändert werden können. Die Demokratie als Gesellschaftsform, in der die Interessen der Mehrheit sich durchsetzen, wird mit dem bürgerlichen Parlamenten ausdrücklich nicht erreicht werden können. Zwischen dem Fabrikbesitzer und Aktienmilliardär auf der einen und den Millionen kapitallosen Menschen besteht in der bürgerlichen Demokratie nur eine formale Gleichheit, aber keine reelle. Das lernen seit Generationen schon die Kinder in der Schule unter der etwas verharmlosenden Formel vom Gegensatz der Verfassungsansprüche und der Verfassungswirklichkeit. Eine moderne linke Partei darf dies niemals vergessen, sondern muss in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit die Entwicklung von tatsächlicher Massendemokratie und neuer Formen kollektiver Gegenmacht stellen.

Drittens formuliert die LINKE in ihren Erfurter Programm – obwohl es in vielen Fragen noch ziemlich unentschlossen und ambivalent ist – Ziele und Wege einer radikalen Gesellschaftsveränderung, die mit Sicherheit nicht durch parlamentarische Initiativen, sondern nur durch massenhafte, selbstbewusste Aktion von Millionen von Menschen in den Betrieben und Stadtteilen erreicht werden können. Die LINKE darf deshalb keine parlamentarische Partei und Partei von Wahlkämpfen werden, sondern muss eine Partei der Bewegung und des außerparlamentarischen Klassenkampfs sein.  Wird sie dies nicht, werden das erste Opfer ihr eigenes Programm und danach alle AnhängerInnen und Mitglieder sein, die für dieses Programm kämpfen wollten.

Die für Wahlkämpfe schlichte Schlussfolgerung aus all dem ist: Mit Wahlkämpfen können wir keine Partei aufbauen, wenigstens keine linke. Mit Wahlkämpfen sind bestehende Kräfte zu bündeln, sind programmatische Aussagen zu popularisieren und zuweilen ist die generelle Frage „Wer soll regieren?“ positiv aufzugreifen – mehr aber nicht.  Die letzte Frage ist natürlich damit zu beantworten, dass WIR regieren wollen. Nicht in einem fiktiven Bündnis mit den Kräften, zu denen wir uns gerade als Alternative aufbauen oder aus denen gar der größte Zulauf zu uns kommt, sondern als wirkliche Alternative, die andere politischen Kräfte und Parteien nicht deshalb gut finden, weil wir uns angepasst haben, sondern die uns folgen, weil sie es müssen, um nicht völlig unterzugehen.

 

4. Das tägliche Gesicht der Verparlamentarisierung

In NRW gibt es keinen Kreisverband, in dem nicht der allergrößte Teil der Arbeit in Kreis-, Stadt- oder Bezirksräten verschwindet – und was wieder rauskommt ist weder geeignet, der LINKEN ein authentisches Gesicht und programmatische Ausstrahlung zu geben, noch setzt es reale gesellschaftliche Kräfte frei, die in Folge eines parlamentarischen Anstoßes eventuell zeitverzögert eine Eigenaktivität entfalten würden.  Die kommunale parlamentarische Arbeit ist Stellvertreterpolitik im dreifachen Sinn: Sie ersetzt die Eigenaktivität der Menschen, die sich gegen die kapitalistische Wirklichkeit zur Wehr setzen wollen oder auch nur sollten. Sie ersetzt die programmatisch begründete Parteiaktivität durch Unterordnung unter Tages- und Geschäftsordnung des parlamentarischen Betriebes  und sie ersetzt die Aktivität der überwältigenden Mehrheit an passiven Mitgliedern durch einen kleinen Kreis von Parlamentariern und ihren ZuarbeiterInnen. Die deaktivierten Kräfte schauen höchstens noch zu, früher oder später wenden sie sich ab.

Im Landesverband NRW müssen deshalb schnellstmöglich Maßnahmen ergriffen werden, die diese Verzerrung der Politik der LINKEN bremsen und zurückführen. Ich habe schon früh und mehrfach die entscheidenden Vorschläge dazu gemacht:

Die Kreisverbände sollten erst dann zu kommunalen Parlamenten und Einrichtungen kandidieren, wenn ein aktiver Kern von Mitgliedern, die in der außerparlamentarischen kommunalen Arbeit präsent sind, vorhanden ist. Wir sollten uns da an der Praxis der niederländischen  SP orientieren. Als Faustregel würde ich vorschlagen, dass mindestens die doppelte Anzahl an aktiven Parteimitgliedern vor Ort organisiert sein muss, wie der entsprechende Stadt- oder Kreisrat Gesamtsitze hat, bevor wir zur Wahl antreten.  Generell muss die kommunalparlamentarische Arbeit  für jeden Mandatsträger auf eine Legislaturperiode befristet werden, dann sollen andere kandidieren. Allein diese Maßnahmen werden die diversen unsäglichen Streitereien um Geld und kleinste Posten, die heute  das Leben in den Kreisverbänden schwer belasten, reduzieren. Damit auch der Rest nicht mehr stattfindet, sollten sämtliche Sitzungsgelder und sonstige Einnahmen aus der kommunalen Arbeit in einen von der Partei verwalteten Fond eingezahlt werden, aus dem die tatsächliche Ausgaben der Mandatsträger dann rückerstattet werden. Niemand darf sich durch die parlamentarische Arbeit bereichern.

 

5. Der Landesvorstand und was es sonst noch gibt

Die kommunale linke Arbeit ist immer am wichtigsten. Sie findet aber nur zu einem kleinen Teil Arbeit in den kommunalen Parlamenten statt. Nimmt letztere ein zu großes Gewicht ein, dann läuft etwas schief. Trotz dieser klaren Option auf kommunale Arbeit ist es ein ziemlich dummer Irrtum anzunehmen, die Menschen würden sich immer nur zu Wahlen und dann entsprechend der Wahlaufgabe mal für kommunale, mal für Landes- und mal für Bundespolitik interessieren und die Partei müsste das alles sorgfältig auseinanderhalten. Ganz im Gegenteil: Die sogenannte „große Politik“ bestimmt in dreifacher Weise das tägliche Bewusstsein der Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Erstens auf der ebenso platten wie scheinbar unverwüstlichen Ebene des Stammtischs und der vulgären Volksvariante der , immer mehr als alternativlos dargestellten, herrschenden Politik, die in der Regel die Politik der Herrschenden ist. Zweitens durch eine ebenfalls zunehmende materielle Verzahnung von Europa- und Bundespolitik mit dem Land und den Kommunen. Nicht nur unsere Kritik an der Entmündigung und Definanzialisierung der Kommunen zwingt uns, immer wieder die großen politischen Zusammenhänge zu erklären, sondern auch die objektive Aufhebung der bisherigen Grenzziehungen durch Steuerpolitik, Abwälzen von sozialen Kosten der Krise auf die Kommunen und direkte Wirkung der Europagesetze  und Weltmarktzwänge auf lokaler Ebene. Und drittens sind es die großen politischen Themen und unsere Positionen darin, die scheinbar bisher im politischen Leben nicht präsent sind, die für uns die Grundlage und den Einstieg schaffen, eine „neue soziale Idee“ und konkrete gesellschaftliche Utopien zu verbreiten. Ohne das wird eine linke Partei aber nicht existieren können.

Die LINKE benötigt deshalb politische Kreisvorstände und vor allem einen politischen Landesvorstand. Ein meinungsstarker und lautstarker Landesvorstand ist wichtiger als ein stets reibungslos funktionierender Verwaltungs- und Dienstleistungsbetrieb der Landesgeschäftsstelle. Ich will letzteres nicht kleinreden, aber was gerade dem aktuellen Landesvorstand gravierend fehlt, ist vor allem seine politische Präsenz zu allen Fragen, die die Menschen um uns herum berühren. Wenn der Landesvorstand mal eine Position bezogen hat, dann war es meistens als Reaktion auf irgendwelche Äußerungen oder Maßnahmen der anderen Parteien oder der Düsseldorfer Regierung. Letztere verfolgten dann immer das Muster, einen Fehler (in einer ansonsten wohl richtigen Politik) aufzuzeigen, nach dem Motto „Versprochen, gebrochen“.  Das mag ja alles durchaus wichtig gewesen sein. Wichtiger wäre jedoch eine politische Positionierung, die gerade die „richtig verfolgte“ und vor der Wahl „korrekt versprochene“ Politik einer systematischen Kritik unterzieht.  Darin läge doch der materielle Nachweis, dass wir eine grundsätzliche Alternative und nicht nur ein mittelprächtiger Korrekturposten für die anderen Parteien sind.  Die Energie-, Umwelt-, Sozial- und Bildungspolitik der Regierung in Düsseldorf will in der Regel nicht die Politik, die wir wollen und die eine große Mehrheit der Menschen im Land möchte.

Es ist auch kein Geheimnis, dass der Landesverband NRW für die Gesamtentwicklung der LINKEN früher eine sehr meinungsbildende und vorantreibende Rolle gespielt hat. Von der ist er leider zurzeit weit entfernt und ein neuer Landesvorstand muss hart daran arbeiten, dass dies wieder so wird. Einschließlich einer guten Präsenz in den bundesweiten Gremien.

Der Landesverband NRW hatte in der Aufschwungsphase bewusst das Ziel verfolgt, LandessprecherInnen und SchatzmeisterIn unabhängig aus Parteimitteln zu bezahlen. Ich halte dieses Ziel für außerordentlich wichtig und wir sollten es unbedingt wieder aufgreifen. Ein Blick auf andere Landesverbände, die von parlamentarischen Geldern abhängig sind, beweist dies. Ich möchte niemanden direkt beleidigen, aber es ist eine Binsenweisheit, dass eine Partei, die zu 80 Prozent von Staatsknete und durch sie finanzierte Beschäftigungsverhältnisse lebt, schon mittel-, eher kurzfristig keine entschlossenen Kritik an diesem Staat wird vorbringen können.

Einer der großen politischen Gewichtsverschiebungen in der LINKEN besteht darin, dass immer mehr ein Politikmodell verfolgt wird, nach dem das Erfurter Programm eine feine Sache sei, aber die konkrete Tagespolitik sich mit solch utopischem Ballast nicht lange aufhalten sollte. Dort eine klare Korrektur zu erzielen, deutlich zu machen, dass unser Programm von Erfurt ein Programm der Aktualität und der Tagespolitik ist, das ist eine große Aufgabe für den Landesverband NRW und seinen Landesvorstand.

Um das Ziel eines so definierten politischen Landesvorstands zu erreichen, ist die Rolle der Landesarbeitsgemeinschaften neu zu definieren. Sie machen – nicht alle, aber durchaus einige – heutzutage eine gute inhaltliche Arbeit. Aber leider sind sie fast alle schon viel zu sehr Opfer einer zentrifugalen Tendenz geworden,  die darin besteht, dass das jeweilige LAG-Thema aus der Gesamtpartei herausgeholt und in die Verantwortung eines ExpertInnen-Zirkels hineingelegt wird. Das muss gestoppt werden. Die LAG müssen deutlich mehr dem Landesvorstand zuarbeiten,  Auftragsarbeiten erledigen und auf die Gesamtpartei zurückwirken.

 

6. Auch heikle Probleme müssen gelöst werden

Die interne Parteidemokratie des Landesverbandes ist in keinem guten Zustand. Immer mehr gibt es einen inneren Zirkel von FunktionsträgerInnen, der die Geschicke des Landesverbandes oder auch nur eines Kreisverbandes bestimmt.  Oft spielen sogar materielle Verstrickungen, wie Beschäftigungsverhältnisse oder Zuwendungen, eine Rolle. Die Quotierung von Männern und Frauen bei Ämtern und Mandaten wird in vielen Kreisverbänden nicht eingehalten. Viele Genossen und auch ein paar Genossinnen haben eine Vielzahl von Ämtern und Funktionen.

Umrahmt wird das ganze gern mit einer – in der Regel unpolitischen und übertriebenen – Kritik an den politischen Strömungen, die angeblich hinter den Kulissen alles zurechtmauscheln würden.

Nach zehn Jahren WASG und LINKE ist festzustellen, dass unsere satzungsmäßigen Regelungen zur Eindämmung und Überwindung dieser Probleme nicht mehr ausreichen.  Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Trennung von Amt und Mandat. Wir brauchen klare Regelungen gegen Ämterhäufung und auch zur Befristung bei Ämtern. Letzteres vor allem bei denen, die Schnittstellen zwischen Parteileben und äußerem Leben berühren, also Parlamentsmandaten, Aufsichtsräte usw.  Die Vorschriften zur Einhaltung der Quotierung auf allen Ebenen – einschließlich des öffentlichen Auftretens der Partei mit Veranstaltungspodien usw. – müssen präzisiert werden. Und letztlich glaube ich, dass die Gespensterdebatte über die „Macht der Strömungen“ ebenso wie der tatsächliche Unfug, den diese Strömungen anrichten, nur dann überwunden werden können, wenn wir unsere von allen gewünschte politische Pluralität mit einem echten Verhältniswahlrecht  kombinieren, das politische Minderheiten ein festes, dem Umfang ihrer Unterstützung entsprechenden Quorum in Leitungsgremien, bei Mandaten und sonstigen Ämtern garantiert. Erst dann wird der Streit vor die Kulissen geholt und wird sich um die wirklichen politischen Inhalte drehen, statt um Klüngelei und Absprachen hinter den Kulissen.

 

7. Das Positive zum Schluss

Ich habe hier nur wenig zu den großen politischen Fragestellungen – Krise des Kapitalismus; Notwendigkeit des Antimilitarismus und Antifaschismus; Alternativen zur EU; Entwicklung eines neuen Internationalismus; Kampf um eine neue Ausrichtung der Gewerkschaften; Formen der aktuellen Einheitsfront mit anderen linken Kräften und den Resten der Sozialdemokratie usw. – gesagt. Erstens habe ich dazu an anderer Stelle und zu jeweiligen Anlässen ausführlich das Wort ergriffen. Und zweitens bin ich davon überzeugt, das unser Erfurter Grundsatzprogramm zwar viele Unklarheiten enthält, aber andererseits so klar und radikal ist, dass damit heute eine authentische, attraktive und radikale linke Politik und Partei begründet und verfolgt werden kann.  Diese Partei muss aber in wichtigen Aspekten anders aussehen als die LINKE in NRW.  Darum habe ich jetzt auch einmal dazu etwas geschrieben, das hoffentlich zu Streit und Debatte, aber auch zu konkreter Umsetzung reizt.

 

Ich werde mit diesen Positionen für das Amt des stellvertretenden Landessprechers  und den Landesvorstand kandidieren und würde mich über Unterstützung und Verbreitung meiner Positionen sehr freuen, ebenso über Kritik…

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