Mehr als Sonntagsreden und Wertekanon: Der Sozialismus als politisches Ziel der Partei DIE LINKE

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Artikel für „LINKE Brise“

Von Thies Gleiss

Mitglied im Bundessprecher:innenrat der Antikapitalistischen Linken

November 2021

Wie oft denkt ein Ministerpräsident der LINKEN daran, dass seine Partei einmal für eine große Veränderung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus angetreten ist? Wann wurde zuletzt in der Fraktionssitzung der LINKEN im Bundestag in einem Antrag oder einer Anfrage das Wort „Sozialismus“ benutzt?

Wer solche Fragen stellt und zu beantworten versucht, wird schnell merken, dass die LINKE mit ihrem politisch-programmatischen Zielvorstellungen nicht gerade liebevoll umgeht. Sie sind gelegentlich für Sonntagsreden in Gebrauch, aber seltener als es Sonntage gibt. Und manchmal werden sie als Bündel von Werten und Moralvorstellungen benutzt, um sich selber oder einen politischen Kontrahenten zu be- oder zu entwerten. Sonntagsreden und Wertekanon – so billig fristet der Sozialismus sein Dasein im Leben der LINKEN.

Trotzdem wird die LINKE in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit anderen politischen Parteien als das böse sozialistische Gespenst dargestellt. Schon ein so politisch dummer wie praktisch aussichtsloser Versuch, eine Koalition mit Olaf Scholz und Annalena Baerbock anzustreben, erntet bei CDU, CSU und ihrer Presse das Todesurteil: Verhindert den historischen Linksschwenk und den Kommunismus.

Fassen wir also zusammen: Die LINKE kümmert sich herzlich wenig um „den Sozialismus“ in ihrer täglichen Politik. Sie ist eine dieser Parteien geworden, die schon Rosa Luxemburg unermüdlich kritisierte, bei der die Tagespolitik und das politische Endziel komplett auseinanderfallen, nichts mehr mit einander zu tun haben. Gleichzeitig wird die LINKE aber für den Sozialismus in Haftung genommen, der noch immer der Alptraum des Kapitals, der Börsenzocker:innen und Grundeigentümer:innen ist.

In Michael Endes Märchenerzählung vom Lukas, dem Lokomotivführer, wird ein solches Phänomen als Scheinriese Turtur beschrieben, der die physikalischen Gesetze umkehrt: Aus weiter Ferne sieht er riesig und gefährlich aus und der herrschende König warnt alle vor ihm, je näher er aber kommt, desto kleiner, alltäglicher und harmloser wirkt er. Die LINKE als Scheinriese – das ist zusammengefasst das Hauptkennzeichen der Partei und angesichts des traurigen Ausgangs der Bundestagswahlen nochmals offenkundig geworden.

Vielleicht einfach mal umdrehen…

Wie wäre es, wenn die Verhältnisse einmal umgekehrt werden? Die LINKE wird in ihrer Tagespolitik radikal, umstürzlerisch und erklärt den Sozialismus aus den Widersprüchen von heute, dafür könnte sie dann ihr politisches Fernziel ganz gelassen als Zeitalter der Ruhe und Entspannung darstellen.

Mehr Radikalität in der Tagespolitik ist heute aus zwei Gründen nötig und aus einem dritten sehr zu empfehlen: Wir leben in einer Zeit, wo selbst kleine tagespolitische Erfolge nur mit mächtigen Kampfanstrengungen zu erreichen sind. Erstens sind die Zeiten vorbei, in denen Lohnabschlüsse über den Inflationsausgleich hinaus in stillen Hotelverhandlungen der Funktionär:innen erreicht werden können. Auch andere scheinbar kleine Fragen zur Verbesserung des täglichen Lebens – von der Arbeitszeitverkürzung, besserer Rente bis zu mehr demokratischen Rechten und gleiche Rechte für alle – werden nur durch harten Klassenkampf von Unten gegen den schon lange ausgerufenen Klassenkampf von Oben gewonnen.

Zweitens ist für viele lebensnotwendige Forderungen von heute das berühmte „Zeitfenster“ sehr klein. Insbesondere alle Maßnahmen zur Rettung des Klimas und der Umwelt müssen heute so radikal und schnellwirkend sein, dass selbst konservative Umweltverbände offen von der Notwendigkeit einer Revolution sprechen. Aber auch bei Fragen der weltweiten Kriegsverhinderung und der Sicherstellung von Ernährung, Bildung, Wohnrecht für alle Menschen auf der Erde sind sehr schnellle Maßnahmen der Umverteilung von Vermögen und der Eingriffe in die Eigentumsrechte erforderlich.

Drittens schließlich gilt auch heute das, was schon zu Karl Marx Zeiten wichtig war: Die Kämpfe gegen das tägliche Elend des Kapitalismus, gegen Ausbeutung und Unterdrückung sind immer, auch schon auf kleinster Ebene, Klassenkämpfe gegen die gesellschaftliche Klasse, die vom Istzustand profitiert und ihn nicht ändern will. Klasse gegen Klasse – so heißt immer noch. Solche Kämpfe drehen sich vom ersten Tag und vom ersten kleinen Warnstreik an, um die Entwicklung von gesellschaftlicher Gegenmacht. Ohne diese Gegenmacht, ohne die „Revolution“, die Umkehrung der Verhältnisse im Kleinen wie im Großen, wird leider die alte Macht nicht gestürzt. Und wichtiger noch: Ohne sie wird auch die neue Macht nicht die nötige Ausdauer und Nachhaltigkeit erlernen. Die neuen gesellschaftlichen Machtverhält entstehen in den Kämpfen gegen die alten. Auch deshalb ist eine Radikalität erforderlich, die bei den Kämpfenden die „Muttermale der alten Gesellschaft“ (Lenin) abstreift.

Drei Quellen des „Sozialismus“

Es gibt auch heute drei strategische Ansatzpunkte, in denen sich der Kampf für eine sozialistische Zukunft schon in den Tageskämpfen von heute entwickelt:

Erstens: Der kleinste, aber nicht unbedeutende Ansatzpunkt ist die Entwicklung von gelebten Alternativen: Genossenschaften, kleine Kommunen, neue Lebensformen schaffen eine Vorstellung davon, wie der Sozialismus einmal funktionierren könnte.

Zweitens: Eine linke Partei kandidiert zu Wahlen für die Vertretungsorgane der bestehenden Gesellschaft mit einem ausgearbeiteten Programm. Davon versucht sie, soviel wie möglich umzusetzen – durch parlamentarische Oppositionsarbeit oder auch mal in Regierungsverantwortung. Letzteres nur wenn dadurch die Gesamtdynamik in eine neue Gesellschaftsordnung gefördert und nicht etwa schon bei kleinsten Veränderungen festgefahren wird. Dieser Bereich der politischen Umsetzung unseres Programms durch Teilnahme an den bestehenden Machtstrukturen und Gremien wird von der LINKEN gewaltig überschätzt und viel zu sehr betrieben, so dass für anderes nicht mehr Kraft und Platz ist.

Drittens: Im wirklichen gesellschaftlichen Leben, in den Stadtteilen, den Betrieben, Schulen und Universitäten findet ein täglicher Kampf um die Interessen statt. Diese Kämpfe erzeugen mal kurzlebige, mal andauernde Strukturen des Widerstandes. Es wird eine Fülle von Erfahrungen beim Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht gemacht. Diese Entwicklungen sind mit Abstand das wirksamste und wichtigste Element, wo die Konturen einer kommenden, sozialistischen Gesellschaft erlebt und sichtbar werden.

In diesen Kämpfen und täglicher Opposition muss die LINKE wachsen und sich bewähren. Wenn sie dies unterlässt und stattdessen nur auf Stellvertreterpolitik in Parlamenten und Gremien vertraut, dann verliert sie erst ihre Radikalität, dann ihre sozialistische Perspektive und letztlich alles.