Klassische bürgerliche Parteien im Niedergang – „Grüner“ Neubeginn verzögert – Selbstzerstörung einer linken Partei

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Stellungnahme des Bundessprecher:innenrates der Antikapitalistischen Linken in der LINKEN zum Ausgang der Bundestagswahlen 2021.

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 hat die in den letzten Umfragen erkennbare Veränderung im Kräfteverhältnis der großen politischen Parteien bestätigt.
Die Proportionen zwischen den Parteien ändern sich, die wirklichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sind davon noch unberührt. Deren Änderung müsste die vornehmste Aufgabe einer LINKEN in der nächsten Zeit werden.

1. Legitimationsverlust

Ein Viertel der Wahlberechtigten hat auch bei dieser Wahl nicht teilgenommen. Die Wahlbeteiligung lag geringfügig höher als 2017. Die fast 10 Millionen nichtwahlberechtigten Einwohner:innen ohne deutschen Pass sind ebenfalls nicht repräsentiert in den Wahlergebnissen.
Insbesondere die LINKE erlebt eine bedeutsame Abwanderung in das Lager der Nichtwähler:innen (eine halbe Million Stimmen).
Bezogen auf die tatsächlichen Wahlberechtigten haben die großen bürgerlichen Parteien SPD (19,5 %), CDU/CSU (18,3 %) und GRÜNE (11,2 %) zusammen noch nicht einmal die Hälfte der Menschen für sich mobilisieren können.

Die Unionsparteien sind von kurzfristig 40 Prozent in den Umfragen auf 24,1 Prozent abgestürzt. Es ist das schlechteste Ergebnis der Unionsparteien in ihrer Geschichte. Mit nur noch gut 11 Millionen Wähler:innen haben die Unionsparteien mehr als ein Viertel ihres Wahlanhangs verloren. Die Hauptpartei der politisch herrschenden Klasse in Deutschland wird nur noch von einem Viertel der Wähler:innen gestützt. Das ist die politische Bilanz von 16 Jahren Merkel und dem stillen oder auch lauten Teilnehmen von SPD, FDP und GRÜNEN an dieser Merkel-Politik.

Die SPD hat mit 25,7 Prozentpunkten ihr drittschlechtestes Wahlergebnis erzielt. Aber sie konnte 2 Millionen Stimmen mehr als 2017 gewinnen. Weder ist von der SPD eine Wechselstimmung ausgegangen, noch hat sie sich überhaupt bemüht, als eine echte Alternative zu Merkel wahrgenommen zu werden. Die SPD ist nach wie vor im 25-Prozent- Käfig gefangen, in den sie nach ihrer Agenda-2010-Politik unter Schröder geraten ist.

Die GRÜNEN hatten in den Umfragen zeitweise ihr Allzeithoch mit fast 30 Prozent. Davon sind sie mit ihrem tatsächlichen Wahlergebnis weit entfernt, dennoch sind sie mit 14,8 Prozentpunkten immer noch bei ihrem besten Ergebnis aller Zeiten angelangt. Sie konnten um 2,7 Millionen Stimmen zulegen. Ihr zentrales politisches Projekt, als die neue politische Hauptpartei der bürgerlichen Klasse und als Managerin einer Modernisierung des Kapitalismus die Wahl zu gewinnen, haben sie allerdings (noch) verfehlt. Die breite Zustimmung für die Wahlsiegerin GRÜNE zeigt allerdings, dass die Mehrheit der Menschen immer noch Hoffnungen in die Möglichkeit einer nachhaltigen Modernisierung des Kapitalismus hegen.

Die FDP profitiert mit einem besseren Prozentergebnis als 2017 von den Fehlern der Unionsparteien und der GRÜNEN und erreicht ihr zweitbestes Ergebnis bei Bundestagswahlen. Mit 11,5 Prozentpunkten und einem Plus von 400.000 Stimmen bleibt sie zweistellig. Sie profitiert vom Niedergang der Unionsparteien.

Die AfD hat ihr Ergebnis von 2017 nicht halten können. Sie erreichte 10,3 % und verlor eine Million Stimmen. Ihr politisches Konzept, sich als die bürgerliche Partei zu verkaufen, die den Mut zu Maßnahmen hat, die sich die anderen Parteien nicht trauen, ist insbesondere in der Corona-Krise nicht aufgegangen, und ihr Versuch, bei den „Corona-Leugner“- Mobilisierungen anzudocken, ist weitgehend misslungen. Eine hart rechte Partei von gut zehn Prozent im Parlament ist für die Linke aber nach wie vor eine große politische Herausforderung. Immer noch gilt: Gegen rechts hilft nur links.

2. Die Dynamik des Wahlkampfes

Die Unionsparteien hatten sich auf dem Hintergrund der guten Umfragen vom Frühjahr voll und ganz auf einen inhaltslosen und unpolitischen Wahlkampf eingestellt. Ihr wichtigster Ministerpräsident aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland NRW, Armin Laschet, sollte geräuschlos auf der Welle des „Weiter-so-wie-Merkel“ ins Amt gehievt werden. Eine solche Wahlkampftaktik läuft immer Gefahr, dass schon kleine Fehler und unglückliche Auftritte des Kandidaten große Wirkung hinterlassen können, sie werden nicht von inhaltlichen Konzepten über die Person hinaus relativiert.

Solche Fehler sind eingetreten.
Großer Gewinner ist Olaf Scholz. Er darf sich jetzt als der Erbe von Merkel und Garant für ein „Weiter-so“ verkaufen. Was der SPD in acht Jahren großer Koalition nicht gelang, glückt ihr ausgerechnet in den letzten Wochen der Amtszeit: Sie wird als die gute Seele der Koalition wahrgenommen.
Auch die GRÜNEN verlieren gegenüber den Umfragen vom Sommer aufgrund von Fehlern ihrer Kandidatin Baerbock, und vor allem wegen zynischer Medienattacken auf sie als Frau in Folge dieser Fehler. Das ist hauptsächlich aber auch hier Resultat einer unpolitischen Personalisierung, der sich die GRÜNEN in ihrer Wahlkampfkonzeption verschrieben haben – da nützte das Geschrei, dass es doch um Inhalte gehen soll, auch nicht mehr. Die GRÜNEN haben im Wahn und ohne Not, eine Kanzlerkandidatin zu präsentieren, ihr medial außergewöhnlich erfolgreiches Spitzenduo Baerbock-Habeck preisgegeben. Im Gegensatz zu ihrer Europawahl-Kampagne haben sich die GRÜNEN statt voll und ganz auf ihr Image als Partei der Modernisierung des Kapitalismus zu bauen, in die Arena des personalisierten Wahlkampfes ohne Inhalte begeben – jetzt haben sie das Resultat.

Der Höhenflug von Scholz ist Ergebnis des unpolitischen Wahlkampfes, nicht dessen Aufhebung. Nichts ist von einem Lagerwahlkampf oder von Wechselstimmung zu spüren gewesen.
Die gesamte Öffentlichkeit weiß, und es wird ihr von BILD bis FAZ und in jeder Talkshow immer wieder vorgeführt, dass bei SPD, CDU/CSU, FDP und GRÜNE allesamt jede mit jeder koalieren kann. Da gibt es keine prinzipiellen Brüche und keine politischen Lager. Selbst das Schmuddelkind AfD könnte darin einen Platz finden (und wird es auch, wenn es „numerisch“ mal erforderlich sein sollte). Ausgeschlossen bleibt allein die LINKE. SPD und GRÜNE wollten und wollen ausdrücklich nicht mit der LINKEN zusammengehen, sie werden es höchstens
zähneknirschend machen, wenn es „numerisch“ nicht anders geht. Und auch dann würde es darum gehen, DIE LINKE zu „entzaubern“ – ihre Inhalte zu entsorgen.

In der Schlussphase des Wahlkampfes haben die Unionsparteien hektisch probiert, den inhaltslosen, personalisierten Wahlkampf in eine Kampagne gegen einen angeblichen „Linksschwenk“ umzulenken. Damit haben sie Olaf Scholz unverhofft und unverdient ein inhaltliches Mäntelchen umgehängt, das er sich gar nicht mehr vorstellen konnte. Er, der als letzter Dinosaurier einer komplett von linken Inhalten befreiten SPD gilt, sah sich plötzlich gezwungen zu erklären, dass er natürlich auch eine linke Koalition machen würde – sofern die LINKE daran nicht beteiligt ist.

Diese neue „Rote-Socken-Kampagne“ der Unionsparteien hat nicht mehr Wirkung erzielen können. Aber sie hat der LINKEN als Partei außerhalb des neoliberalen Kartells eine gar nicht mehr für möglich gehaltene Chance eröffnet, doch noch in diesem Wahlkampf vorzukommen. Ein Elfmeter geradezu, sich als politische Alternative in Szene zu setzen. Aber die politisch Verantwortlichen im Wahlkampf der LINKEN haben diese Chance nicht nur nicht ergriffen, sondern sie weit von sich gewiesen: Links? – wir doch nicht. So könnte der Auftritt der LINKEN nach Veröffentlichung ihres inhaltlich entleibten „Sofortprogramms“ zusammengefasst werden.

3. Die LINKE – ein selbstzerstörerisches Trauerspiel mit Ansage

Die LINKE gehört zu den großen Verlierer:innen dieser Wahl. Wieder einmal. Sie hat zwei Millionen – fast die Hälfte von 2017 – an Stimmen verloren und vor allem an Stimmungen. Statt eine Offensive für einen „System Change“, für ein grundlegend anderes Politik- und Gesellschaftsmodell zu starten, hat sich sie LINKE inhaltlich selber kastriert und sich nur als Teil einer herbeifantasierten Koalition mit SPD und GRÜNEN schon im Wahlkampf dargestellt.

Die LINKE wird mit 4,9 Prozent nur dank der Sonderregelung bei mindestens drei gewonnenen Direktmandaten (Grundmandatsklausel) gemäß ihrer Zweitstimmenanteile in den Bundestag einziehen Sie hat überall verloren.

Die LINKE hatte mit ihrem Wahlprogramm durchaus eine breite politische Alternative zu den anderen Parteien formuliert. Wir von der AKL haben auch dieses Programm teilweise kritisiert, weil es zu wenig zuspitzte und zu wenig die „Systemfrage“ stellte. Aber wir haben es als ein linkes, antikapitalistisches Programm bewertet, das nur die LINKE und keine andere Partei sonst aufgreifen kann.

Die AKL hat mit ihrer solidarischen Kritik am Wahlprogramm zugleich davor gewarnt, dass die unbelehrbaren „Regierungssozialist:innen“ in der Partei und vor allem in Partei-, Fraktions- und Wahlkampfapparat davon abgehalten werden müssen, sich von diesem Programm im Laufe des Wahlkampfes immer mehr zu distanzieren und sich als leb- und inhaltloses Anhängsel der SPD und der GRÜNEN zu verkaufen.

Leider ist dies im Wahlkampf dann doch geschehen. Mit dem Kurzwahlprogramm, mit Themenflyern und vor allem mit dem „Sofortprogramm“ vollzog die LINKE eine für alle sichtbare taktische Wende. „Regierungspielen in der Opposition“, „Koalition mit SPD und GRÜNEN schon während des Wahlkampfes“, „Hauptsache Merkel muss weg“ – so lauteten die neuen fast surrealen Parolen. Diese Änderungen im taktischen Wahlkampfauftreten erfolgten allesamt am Parteivorstand und selbst am geschäftsführenden Parteivorstand vorbei. Abstimmungen darüber gab es nicht.

Das Ergebnis war vorherzusehen: Trotz aller Balzerei von Kopien wird in der Regel dann doch das Original gewählt. Eine gute Million Wähler:innen der LINKEN ist zu SPD und GRÜNE gewandert. Eine gute halbe Million hat gar nicht gewählt. Die eigene Anhänger:innenschaft der LINKEN, die immer noch zu einem wesentlichen Teil aus von SPD und etwas weniger auch von den GRÜNEN enttäuschten Menschen besteht, die nicht wieder die politische Identität für ein Linsengericht verkaufen wollen, wurde in und durch diesem Wahlkampf verprellt.

Die Aufstellung von Sahra Wagenknecht als Spitzenkandidatin in NRW, die wenige Tage vor Beginn des Wahlkampfes über ein neues Buch ihr „Gegenprogramm“ (so ihr Originaltext) zum Programm der LINKEN präsentiert hat, sorgte insbesondere in NRW zusätzlich dafür, dass selbst in den bei der LINKEN sowieso nur spärlich ausgeprägten Bereichen einer wirklichen gesellschaftlichen Verankerung als linke Partei Verunsicherung oder sogar Entsetzen erzeugt wurde. Ein linkes Konzept von „Deutschland, aber normal“, wie es Sahra Wagenknecht verfolgt, ist für die realen sozialen Bewegungen und für junge rebellische Linke ein Schlag ins Gesicht.

Die Verantwortlichen für diesen völlig falschen Wahlkampf sollten ernsthaft überlegen, persönlich-politische Konsequenzen zu ziehen.

Wir befürchten aber, dass eher das Gegenteil passieren wird. Die neugewählte Fraktion, die trotz der Verluste auf Basis der Überhangs- und Ausgleichsmandate mit 39 Mandaten noch gut halb so groß sein wird wie die alte, wird sich weiterhin auf den Kurs der Anbiederung an SPD und GRÜNE begeben. Ein neues „Hufeisen“ der „Regierungssozialist:innen“ mit dem Kreis um Sahra Wagenknecht wird dazu wohl geschmiedet werden.

Kommt es nicht zustande, ist eine Spaltung der LINKEN aktuell, kommt es zustande, dann wird vor allem jede unabhängige politische Regung der Partei und ihrer Gremien, allen voran des gewählten Parteivorstandes, unterdrückt werden, um den Kurs der in den Fraktionen nistenden Regierungssozialist:innen nicht zu gefährden.

All die anderen jedoch, die eine unabhängige, radikale, sozialistische Partei, die in der realen Gesellschaft verankert ist haben und verteidigen wollen, die nicht nur auf das schielen, was „numerisch möglich ist“, sondern eine programmatische Prinzipienfestigkeit haben, ohne die eine linke Partei schlicht nicht überleben wird – die sollten jetzt die Partei vor ihrer Fraktion verteidigen. Die sollten realistisch feststellen, das mit dieser SPD und mit diesen GRÜNEN keine gemeinsame Regierung möglich war und ist, sondern höchstens einzelne Maßnahmen einer Minderheitsregierung von der LINKEN mitgetragen werden können.

Es wird auch 2021 keine parlamentarische Abkürzung zu einer beharrlichen Verankerung in der Gesellschaft und die Stärkung und Zusammenfassung wirklicher Bewegungen und Kämpfe in eine antikapitalistische Systemopposition geben.

Landtagswahlen und Volksentscheid

Bei den parallel abgehaltenen Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin hat die LINKE leicht, bei denen zum Landtag in Mecklenburg-Vorpommern hat die sie sehr deutlich verloren. Es ist ihr zu raten, nicht an einer neuen Regierung mit SPD und GRÜNEN in Berlin teilzunehmen, und in Mecklenburg-Vorpommern davon gar nichts zu fantasieren.

Das einzig politisch positive Ergebnis dieses Wahltages bleibt deshalb, dass eine Mehrheit der Berliner Bevölkerung für die Volksinitiative zur Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. gestimmt hat. Das ist ein gutes Zeichen, was eine breite, die gesamte Stadtgesellschaft umfassende Mobilisierung im Interesse der Vielen erreichen kann.