EINE KLEINE ETAPPE ZUR MODERNEN LINKEN MASSENPARTEI

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Zum Ende der Amtszeit von Katja Kipping und Bernd Riexinger

Ein Beitrag von Thies Gleiss

Als Katja Kipping und Bernd Riexinger auf dem Göttinger Parteitag 2012 zu den Parteivorsitzenden der LINKEN gewählt wurden, stand die Partei vor einer Spaltung.

Der im Zuge der weltweiten Finanz- und Überproduktionskrise des Kapitalismus 2007-2009 bei der Bundestagswahl 2009 eingefahrene größte Wahlerfolg in der Geschichte der LINKEN als einziger antikapitalistischer Partei bei der Bundestagswahl und die danach stattfinden Landes- und Kommunalwahlen hatten zu einem großen Anstieg der parlamentarisch eingebundenen Kräfte der LINKEN geführt. Gleichzeitig verlor die Partei Mitglieder aus ihrer Gründungsgeneration und Neueintritte blieben aus, so dass das für eine linke Partei lebenswichtige Verhältnis von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit gefährlich in Schieflage geriet.

Im Bundestag gab es die numerische Mehrheit aus SPD, GRÜNEN und LINKE, die 2005 existierte, seit 2009 nicht mehr. Drei Jahre lang träumten seitdem die Regierungssozialist*innen in der LINKEN, was bei einer neuen Mehrheit wäre, wenn sie bald auch mal in den Ministerien sitzen. Trotz aller spröden Zurückweisungen von Seiten der SPD und trotz der parlamentarisch schwachen GRÜNEN, die damals in der LINKEN noch ihre Konkurrenz sahen (nicht so wie heute in der CDU, im Kampf um die Anerkennung als moderne Vertreterin der Bourgeoisie), und die seit März 2011 – aus Anlass des Atomkraftunglücks in Fukushima – von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilten.

Partei gegen Fraktion

In dieser Situation wollte der parlamentarisch, am Gestalten und Mitregieren interessierte und durch zahlreiche berufliche Karrieren festgezurrte Flügel in der Partei die Macht übernehmen. Gesicherte Gerüchte sagen, dass ein separater Versammlungssaal schon gebucht war. Gregor Gysi hielt eine fürchterliche, die Spaltung heiligsprechende Rede und Oskar Lafontaine donnerte mit der vielleicht besten Rede als Mitglied der LINKEN dagegen, dass eine Spaltung ohne gravierende programmatische und vor allem Differenzen in der politischen Praxis ein prinzipienloses Abenteuer wäre, bei dem alle Beteiligten verlören.

Die linke am Parteiaufbau interessierte Basis mobilisierte in dieser Situation die Partei zu einer Schlacht gegen die Parlamentarist*innen und Regierungssozialist*innen. Auch damals stand ein Duo aus zwei jungen Frauen zur Wahl als Parteivorsitzende: Katja Kipping und Katharina Schwabedissen aus NRW. In der Schlammschlacht gegen die Regierungssozialist*innen wurde – auch durch nicht gerade ruhmreiches Agieren von Katja Kipping – zuerst Katharina Schwabedissen geopfert, die vielen als zu links schien und Bernd Riexinger wurde als spontan herbeigerufener Anti-Bartsch-Kandidat ins Rennen geschickt. Er gewann knapp gegen Dietmar Bartsch und stellte fortan mit Katja Kipping das neue Führungsduo.

Die theoretischen Schnittmengen zwischen Bernd und Katja waren gar nicht so klein. Beide hatten eine politische Orientierung auf außerparlamentarische Bewegungen. Bernds solide, an den theoretischen Positionen der alten (rechten) Opposition in der KPD geschultes, marxistisches Bewusstsein kam auch den post-marxistischen, dekonstruktivistischen Theorien von Katja meistens gut entgegen. Katja war zudem die einzige aus dem alten „PDS-Stall“, die im Westen und bei den von der WASG angezogenen politischen Kräften einigermaßen akzeptiert wurde.

Die LINKE kann nicht Krise

Die beiden Vorsitzenden traten ihr Amt in einer Zeit an, als die tiefe kapitalistische Krise, die unter dem Namen Finanzmarktkrise in die Geschichte eingeht, aber natürlich viel mehr als das war, schon fast wieder vergessen war, obwohl alle wirklichen Wirtschaftsfaktoren immer noch auf Krisenmodus gestellt waren.

In den Monaten vor 2012 wurde aber auch erstmals klar, dass die LINKE nicht „Krise kann“. Obwohl die gesamte Öffentlichkeit vom „bösen Kapitalismus“ sprach, obwohl der Staat massiv als Retter vor der Anarchie des Marktes gerufen wurde und auch entsprechend handelte, obwohl die ideologischen Kulissen des Neoliberalismus – vom Professor Sinn bis zum gescheiterten Sparkassendirektor Peer Steinbrück – eine nach der anderen zusammenbrachen, fand die LINKE nicht zu einer charismatischen und radikalen Systemkritik. Wichtige Spitzenkräfte, die Regierungssozialist*innen voran, schlüpften stattdessen in die bekannte sozialdemokratische Rolle vom Arzt und Ärztin am Krankenbett des Kapitalismus. Erst solle „die Wirtschaft“ gerettet, erst das „Versagen des Staates“ behoben werden, dann könne von radikalem Systemwechsel gesprochen werden. Das übliche Trauerspiel.

Die grundsätzliche Entscheidung der neuen Parteiführung war vom Ansatz richtig. Im Mittelpunkt stand die Entwicklung einer aktiven und aktivierenden Partei, deren Mitgliedschaft interventionsfähig in die zentralen gesellschaftlichen Konfliktfelder ist. Aber die Durchsetzung gegenüber dem regierungssozialistischen Flügel der LINKEN in den Parlamenten, auch und besonders in den kommunalparlamentarischen Strukturen in den Ländern, geriet immer wieder zu halbherzig.

Katja und Bernd trafen sich in klugen Konzepten, die unter den Namen „Partei in Bewegung“ und „Verbindende Klassenpolitik“ bis heute wichtige Impulse setzen. Es entstanden in dieser Zeit auch einige theoretisch gut ausgearbeitete Papiere. Sie waren immer sehr instruktiv, wenn nur die Namen der beiden Vorsitzenden drunter standen. Ich habe sie meistens auch kritisiert, aber sie waren zur Kritik geeignet. Leider wurden sie immer wieder durch haarsträubende Unsinnstexte „ergänzt“, unter dem dann noch die Namen der Fraktionsvorsitzenden standen. Partei in Bewegung und „regierendes Mitgestalten“ oder sogar nur Träumen vom Mitgestalten passen halt nicht zusammen. Eine Zeit, die vom Klassenkampf von Oben bestimmt ist, ruft nach Klassenkampf von Unten – und der ist das Gegenteil der Appelle vom Staatsversagen und zur Rettung „der Wirtschaft“.

Verbindende Klassenpolitik

Katja und Bernd öffneten die LINKE, die aufgrund der nicht gerade perfekt durchgeführten Fusion von PDS und WASG eine viel zu große Portion an Behäbigkeit und Strukturkonservatismus mitschleppt, für die Jahrhundertthemen Ökologie und Klimagerechtigkeit, ohne die heutzutage keine Betriebsversammlung oder Pausengespräche in der Kantine mehr stattfinden.

Sie haben das Thema unteilbare Solidarität und praktische Unterstützung der Geflüchteten gegen massive Angriffe von national-sozialdemokratischen Positionen verteidigt. Der Preis war allerdings, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mitgliedschaft ihnen darin nicht folgte.

Angesichts des Aufschwungs der AfD und anderer Rechter haben Katja und Bernd richtigerweise die ökonomistischen Theorien, das seien alles Resultate falscher Sozialpolitik und die AfD-Wähler*innen seien im Grunde Protestwähler*innen, zurückgewiesen und die LINKE an die Seite der großen antirassistischen Mobilisierungen geführt.

Im Gegensatz zu den in den letzten Tagen etwas schräg hochgekochten Behauptungen und Kritik an Katja und Bernd, kam zu keinem Anlass von ihnen der Versuch, die friedenspolitischen Positionen der Partei aufzuweichen. Alle Versuche dieser Art haben ihren Ausgangspunkt in den Parlamentsfraktionen und der Parteivorstand hat sie stets zurückweisen müssen.

Katja und Bernd und die von ihnen aufgebaute Parteiführung schufen eine Reihe von Formaten zur Einbeziehung und Aktivierung der Mitgliedschaft und brachten die Partei auch in den – meistens stark überschätzten, aber dennoch unerlässlichen – digitalen Aktionsfeldern gut voran. Sogar die schon heftig in wissenschaftlichen Elfenbeintürmen isolierte Rosa-Luxemburg-Stiftung fand in den Jahren der Parteiführung von Katja und Bern zu einigen Auftritten und Angeboten zurück, die unmittelbaren Nutzen für eine aktive und interventionistische Linke brachten.

Die Partei gewann neue, vor allem junge Mitglieder. Sie wuchs in erster Linie in den alten westlichen Bundesländern und schrumpfte im Osten, aber auch die absolute Zahl der Mitglieder nahm wieder zu.

Es gibt keine „progressives Lager“

Die LINKE hat in allen Wahlen seit 2009, die meisten davon in der Amtszeit von Katja und Bernd nicht überzeugend abgeschnitten. Die beiden Vorsitzenden und der Parteivorstand waren dafür nicht oder kaum verantwortlich. In allen Wahlen operierte die LINKE mal mehr mal weniger mit der Parole, es gäbe in diesem Land ein „progressives“, ein „rot-rot-grünes“ oder ein Lager „links von der CDU“. Diese These ist parteischädigend. Es gibt dieses Lager nicht. Jedes Kind weiß, dass SPD und GRÜNE heute nicht nur gleichermaßen verantwortlich sind für die pro-kapitalistische Politik und die Folgen für die Vielen in der Gesellschaft, sondern dass sie oft genug die treibenden Kräfte bei dieser Politik sind.

Die LINKE hat deshalb bei allen Wahlen nicht das mobilisieren können, was möglich wäre, weil sie sich nicht hart als die einzige nicht neoliberale und nicht pro-kapitalistische Partei präsentiert hat. Die Wähler*innen der LINKEN blieben und bleiben zuhause, nur zu einem ganz kleinen Teil sind sie auch zur AfD weitergezogen.

Wer, wie die LINKE, und zurecht wie die LINKE im 21. Jahrhundert, den Mund voll nimmt an harter, radikaler Kritik am Kapitalismus, der oder die dürfen dann im Wahlkampf nicht daherkommen und so tun, als ob alles nicht so schlimm sei und man mit der Hälfte der anderen Parteien auch ganz gut ins Geschäft kommen könne.

Es ist eher das Verdienst der Parteiführung um Katja und Bernd, dass sie noch schlimmere Abstürze angesichts solcher tragischen Wahlkämpfe verhindert hat. Sie waren ein wenig dafür verantwortlich, dass die LINKE ihre Wahlergebnisse trotz und nicht wegen der verkorksten Wahlkämpfe einfuhr. Dafür sorgten auch die zwischen den Wahlkämpfen und in der Regel mit radikaleren Inhalten als die Wahlkämpfe organisierten Kampagnen zur Pflege, zur Miete, zum ökosozialen Umbau u.a.

Mit einer Ausnahme: Bei den Wahlen zum Europaparlament 2014 und verstärkt noch einmal 2019 hat die Parteiführung um Katja und Bernd verhindert, dass ein programmatischer und wahlkämpfender harter Anti-EU-Kurs eingeschlagen wurde. Das wäre aber die einzig angemessene Antwort auf die tiefgreifende und innerhalb des Bestehenden unauflösbare Krise der EU gewesen. So hatte die LINKE bei den Europawahlen buchstäblich zu der einzig wichtigen bei diesen Wahlen gestellten Frage „Wie stehst du zur EU“ nichts zu sagen. Da bleiben die Wähler*innen dann nicht nur zuhause, sondern sie werden geradezu aufgefordert zuhause zu bleiben.

Der größte Fehler von Bernd Riexinger

Zur Bundestagswahl 2017 machte Bernd Riexinger den größten Fehler seiner Amtszeit: Er kandidierte selbst zum Bundestag und wurde gewählt. Dadurch verlor er seinen wichtigsten Ansatzpunkt, die Partei gegenüber den Regierungssozialist*inne zu verteidigen. Er wurde selbst in das Räderwerk der Fraktion eingebaut und zynischerweise als kleiner Hinterbänkler, dem auch mal demonstrativ das Mikrofon aus der Hand genommen werden darf, wenn „die Fraktion“ was sagen möchte.

Dieser Fehler blieb leider nicht nur an Bernd haften. Schon am Abend der Wahl von 2017 begann der größte politische Angriff auf die LINKE – nicht von Armee, Polizei, Geheimdiensten, Unternehmerverbänden, sondern aus den Reihen der Parlamentsfraktion selbst.

Trotz eines respektablen Wahlergebnisses wollte ein Teil der Fraktionsspitze und der Fraktion insgesamt, der vom anderen Teil dabei nicht nennenswert gestört wurde, die sich in realen sozialen Bewegungen aufbauende Partei komplett entmachten. Es wurde ein synthetisches Modell einer neuen „vorparlamentarischen Massenbewegung“ entwickelt, das unter dem Namen „aufstehen“ das angebliche rot-rot-grüne Lager neu aufmischen und durchmischen, und die zukünftige Wähler*innenbasis der Regierungssozialist*innen begründen sollte.

An diesem Projekt war so gut wie alles falsch: Zielsetzung, Programm, handwerkliche Durchführung und personelle Besetzung. Es war so zum Scheitern verurteilt, dass zu Verschwörungstheorien Neigende schon auf die Idee kommen können, hier wollte jemand die Partei schädigen.

Ich bin ausdrücklich kein Verschwörungstheoretiker, aber das Resultat von „aufstehen“ bleibt trotzdem: Die LINKE und nur die LINKE, nicht SPD, GRÜNE oder allgemein „die Linke“, wurde nachhaltig beschädigt. Die gerade anwachsende Autorität der LINKEN in realen sozialen Bewegungen wurde durch diese irreale Bewegung wieder pulverisiert. Heute hat die LINKE kaum als Partei Einfluss in den sozialen Bewegungen, sondern nur noch durch engagierte Einzelkämpfer*innen, die zufällig auch gleichzeitig in der LINKEN sind.

Warum ein Teil von Fraktionsspitze und Fraktion diesen Harakirikurs einschlug und warum der Rest der Fraktion ihn daran nicht hinderte, ist nur durch das fortgeschrittene Stadium einer parlamentarischen Verblödung zu erklären, die – so ist die ausnahmslose Lehre der Geschichte linker Parteien – immer dann eintritt wenn das Führungspersonal der linken Partei zehn und mehr Jahre in der Scheinwelt des Parlamentarismus gefangen ist und den Rest der Welt nur mit einer solchermaßen verengten Perspektive sieht.

Leider waren Katja und eben dann auch Bernd völlig in dieses parlamentarische Eigenleben eingebunden, so dass das absehbar katastrophale „aufstehen“-Projekt weder verhindert, noch später blockiert und kritisch aufgearbeitet werden konnte.

Und nun?

Die LINKE steht 2021 mit dem Ende der Amtszeit von Katja und Bernd vor einer sehr ähnlichen Lage wie 2012 in Göttingen. Die Aufgabe der Stunde besteht einmal mehr in der harten Mobilisierung der Parteimitglieder und ihrer Gremien gegen die wachsende Versumpfung im Parlamentarismus und den Illusionen des Mitregierens. In diesem Sinne waren – zumindest die ersten sechs Jahre – der Amtszeit von Katja und Bernd eine kleine Etappe im Aufbau einer modernen linken Massenpartei. Dem muss die nächste Etappe folgen.

Es muss ein neuer Vorstand gewählt werden, der weniger Mandatsträger*innen und deren Mitarbeiter*innen in Doppelfunktion hat als der alte. Weder Janine Wisser noch Susanne Hennig-Wellsow sollten für den Bundestag kandidieren, sondern vollständig im Dienst der Partei sein.

Die Parlamentsarbeit sollte unbedingt analog zu den Parteiämtern befristet werden.

Die LINKE wird nur zu neuer Kraft und Ausstrahlung kommen, wenn eine selbstbewusste, prinzipientreue, antikapitalistische Partei ist, die zum Mainstrem der herrschenden Politik nein sagt und mit aller Macht antikapitalistische Kämpfe und Selbstorganisation stärkt. Veränderung beginnt mit Opposition – das betrifft im Übrigen auch die persönlichen Veränderungen, die der eine oder die andere Genossin vielleicht noch vorhat.

Ich persönlich habe die erste Zeit des Vorsitzes von Bernd und Katja als Mitglied des Landesvorstand NRW, die letzten 6 Jahre als Mitglied des Parteivorstandes miterlebt. Ich fand ihre Art immer sehr zuvorkommend und solidarisch. Ich bedanke mich bei beiden für die Zusammenarbeit.

Katja kann ich nur raten, ganz schnell das Parlament zu verlassen, damit sie mehr Mut zum Anecken und weniger Angst vor schlechter Presse in ihrer politischen Arbeit lernt. Bernd hat merkwürdigerweise auch heute, in der nächsten großen Krise des Kapitalismus, wo die LINKE wieder mal radikal und systemsprengend auftreten müsste, den gleichen strategischen Pessimismus, den auch die KPO in den zwanziger Jahren hatte. Dabei wäre gerade ein strategischer Optimismus gepaart mit taktischem Pessimismus das Gebot der Stunde für linke Politik.

Köln, 25. Februar 2021 – Thies Gleiss