Neues aus dem Schlaraffenland

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Bemerkungen zur Arbeitszeitfrage von Rainer Beuthel

I.

Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise (ursprüngliche Akkumulation) wurde ein tägliches und wöchentliches Arbeitsregime etabliert, das es im Feudalismus so nicht gegeben hatte. Teils durch außerökonomischen Zwang (Arbeitshäuser), teils durch notwendige Einsicht in die neuen ökonomischen Verhältnisse verfestigte sich bei denen, die ihre Arbeitskraft nun frei verkaufen mußten, ein neuer Arbeitsrhythmus und wurde zur „zweiten Natur“: Zu bestimmten, von den Kapitaleignern festgesetzten Zeiten mußten soundso viele Stunden Arbeit geleistet werden, mit Löhnen, die häufig nicht einmal die Reproduktion der Arbeitskraft sichern konnten. Die Folge war absolute Verelendung vielerorts.

Dagegen regte sich notgedrungen Widerstand. Die Arbeiter formierten sich als Klasse für sich und setzten der Macht des Kapitals in Form von Gewerkschaften, Vereinen und Parteien organisierte Macht entgegen. Die Auseinandersetzung um die Länge des Arbeitstages und die Zahl der wöchentlich abzuleistenden Arbeitsstunden wurde zu einem zentralen Konfliktfeld des alltäglichen Klassenkampfes und blieb es im Rahmen eines sich wandelnden Kapitalismus bis heute. Während die Kapitaleigner aufgrund der Marktkonkurrenz untereinander immer zur Verlängerung der Arbeitszeiten der von ihnen Ausgebeuteten tendieren, versuchen die Besitzer*innen der Arbeitskraft sowohl einen höheren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt zu erstreiten, als auch ihre Arbeitszeiten zu verringern und sich tendenziell denen anzunähern, die für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft notwendig sind. Diese beiden Tendenzen sind dem Kapitalismus wesenseigen und lassen sich weder durch „Sozialpartnerschaft“, noch durch „Wirtschaftsdemokratie“ gesellschaftlich eliminieren. Zeitweise gelingt es den beherrschten Klassen, sich ein größeres Stück Kuchen des gesellschaftlichen Reichtums anzueignen. Die Besitzübernahme der „ganzen Bäckerei“ steht aus.

Warum muß man auf all dies aktuell hinweisen? Gehört es nicht sowieso zum Einmaleins von linken Sozialist*innen? Wohl nicht, angesichts etwa der Debatte um ein „bedingungsloses“ Grundeinkommen, oder neuerdings der Forderung nach einer 30-Stunden- oder auch 4-Tage-Woche „für alle“(!) und außerdem „mit vollem Lohnausgleich“, Vorstellungen, die eher dem Märchen vom Schlaraffenland als der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität, bzw. den realen Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit entsprungen zu sein scheinen.

Der Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages, der im 19. Jahrhundert noch zumeist 12 bis 16 Stunden dauerte, war schwer und opferreich. Der 8-Stunden-Regelarbeitstag als Ergebnis der Novemberrevolution stand häufig nur auf dem Papier, mußte mit mehr oder weniger Erfolg verteidigt werden. Die 5-Tage-Woche („Samstags gehört Vati mir!“) wurde im Rahmen des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ als Klassenkompromiß der sogenannten Sozialpartner weitgehend vereinbart. Heute ist die 5-Tage-Woche in vielen Bereichen Geschichte, was nicht nur, aber auch, mit der immensen Zahl von Überstunden zusammenhängt, die landesweit geleistet werden. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche seit Ende der 70er Jahre erbrachte in einigen Branchen spürbare Arbeitszeitverkürzungen, aber nirgendwo konnte die ursprüngliche Forderung „mit vollem Lohnausgleich“ durchgesetzt werden. Im öffentlichen Dienst (auf den später noch gesondert eingegangen werden muß) wurde zunächst im „Tarifgebiet West“ eine 38,5 Stunden-Woche vereinbart, nach 2006 aber wieder auf 39 Stunden verlängert. Im Osten gilt weiterhin eine 40-Stunden Woche.

Diese Streiflichter aus der Geschichte der gewerkschaftlich-tariflichen Kämpfe zeigen, daß die Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung langwierig und von Rückschlägen begleitet sind und keineswegs durch eine quasi als tagesaktuell daherkommende Wünsch-Dir-Was-Forderung erfüllt oder ersetzt werden können. Die allgemeine Schwächung der Gewerkschaften (auf die Ursachen dafür soll hier nicht näher eingegangen werden), lassen substantielle Erfolge bei der weiteren Verkürzung der tariflichen Arbeitszeiten zeitnah eher als unwahrscheinlich erscheinen. Sie wären dann möglich, wenn sich der Organisierungsgrad in den Betrieben erheblich erhöhen würde (parallel wäre eine stärkere internationale Vernetzung von Gewerkschaften unabdingbar). Die Tendenz zielt leider in die andere Richtung. Und ein wachsender Teil der „Beschäftigten“ arbeitet nicht mehr unter Bedingungen von gewerkschaftlich ausgehandelten Flächen- oder Haustarifverträgen, sondern unterliegt stärker noch als zu Zeiten des Fordismus der Willkür der Kapitaleigner*innen. Für sie gilt in der Arbeitszeitfrage letztlich das Arbeitszeitgesetz, und das basiert auf 6 möglichen Arbeitstagen pro 8 Stunden, also auf einer 48-Stunden-Woche, wobei die tägliche Arbeitszeit bis auf 10 Stunden ausgedehnt werden kann.

II.

Die Idee einer 30-Stunden-Woche ist nicht neu, eine Debatte darüber wurde ziemlich intensiv bereits 2013 geführt – ohne erkennbare Folgen. Warum Katja Kipping das Thema in der Form „30-Stunden- oder 4-Tage-Woche für alle“ kürzlich erneut zum Thema machte, ist unklar. Vielleicht hat eine gewisse Furcht vor einem Bedeutungsverlust der LINKEN angesichts der Corona-Krise Pate gestanden, einer Krise, die den öffentlichen Diskurs derart massiv prägte, daß alle anderen Themen, gerade auch die klassischen linken betreffs mehr sozialer Gerechtigkeit unterzugehen drohten.

Leider hat Katja Kipping ihre Idee von vornherein ganz undifferenziert und weitgehend unkonkret dargestellt, ohne klar zu benennen, wie man was wo mit welchen Mitteln eigentlich erkämpfen könnte. Eine Ausnahme bildet die Idee, der Staat könnte über ein „zweites Kurzarbeitergeld“ Lohnausfälle infolge von Arbeitszeitverkürzungen für ein Jahr finanzieren. Danach sollten dann die Tarifparteien den erreichten Stand per Tarifvertrag verstetigen – eine ziemlich abenteuerliche Vorstellung, denn „Unternehmer“ und Gewerkschaften können nicht von Seite des Staates zum Abschluß von Tarifverträgen gezwungen werden. Und in welchem Verhältnis das erste und ein zweites Kurzarbeitergeld stehen sollten, blieb unklar. Jedenfalls schien das Ganze ebenso „bedingungslos“ erreichbar wie das gleichnamige „Grundeinkommen“, als würden bereits wir die „Bedingungen“ bestimmen und nicht die herrschenden Klassen.

So ist es nicht verwunderlich daß die BAG Betrieb & Gewerkschaft Kritik an Kippings Vorstoß übte. In einer Erklärung vom 12.08.2020 heißt es u.a.:

„Das Problem besteht (…) darin, dass der Vorschlag die Wechselwirkung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ausblendet. Kämpfe um die Zeit waren nie einfach, denn sie fordern das Kapital an der Verfügungsgewalt über die Ware Arbeitskraft heraus. Sie wollen die Frage, wann der Arbeitstag beendet ist und bezahlte Überstunden anfallen, neu regeln. Nicht ohne Grund konnte 1919 der Acht-Stunden-Tag nur durch die Wucht der Novemberrevolution durchgesetzt werden. Und 1984 waren für die 35-Stunden-Woche sechs Wochen Streik notwendig. Eine intensive strategische Planung in der IG Metall und eine breite gesellschaftliche Unterstützung hatten aus der tarifpolitischen Forderung eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung gemacht.

Im Unterschied zu 1984 stehen Beschäftigte heute mit dem Rücken zur Wand. Kurzarbeit und Massenentlassungen verändern die Bedingungen für Arbeitskämpfe. Gegenwärtig gelingt es noch nicht einmal, die Prämienzahlungen an Pflegekräfte auf alle Krankenhausbeschäftigten, auf Erzieher, Busfahrer oder Verkäufer auszuweiten – und das obwohl sie vor wenigen Wochen noch als systemrelevant beklatscht wurden.

Verkündungen in Sommerinterviews sind also das eine. Der Prozess, in dem sich betriebliche Stärke mit der gesellschaftlichen Debatte über die Frage, wie wir leben wollen, verbindet, etwas anderes. Gewerkschaftliche Verankerung und breite Bündnisse wären nötig, um in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituation eine derart große Forderung durchzusetzen. DIE LINKE darf die Strategiediskussion der Gewerkschaften also nicht vom Zuschauerrang kommentieren, sondern muss Teil eines Teams sein, das gemeinsam auf den Platz geht.“

Dankenswerterweise hat Bernd Riexinger in einer Stellungnahme vom 24.08.2020 Katja Kippings etwas nebulöse Äußerungen konkretisiert („Die 4-Tage-Woche konkret machen“). Wenn er auch eingangs ausführt „Die Verkürzung der Arbeitszeit auf 4 Tage oder 30 Stunden pro Woche trifft den Nerv der Zeit“ – als handele es sich bei der tariflichen Wochenarbeitszeit und deren Verteilung auf bestimmte Tage „irgendwie“ um das Gleiche – stellt er im folgenden anders als Kipping die verschiedenen Ebenen dar, auf denen die Arbeitszeitfrage der Lohnabhängigen real verhandelt wird:

„gesetzlich (ArbZG)

tariflich (Tarifvertrag)

betrieblich (Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen)

individuell (Arbeitsvertrag)“

Dies sind unterschiedliche Felder der Auseinandersetzung, die sich teilweise überschneiden, aber auch ausschließen. Zum Beispiel: Wer seine Arbeitskraft in einem Betrieb anbietet, in dem weder ein Tarifvertrag gilt, noch ein Betriebsrat gewählt wurde, ist von vornherein der Willkür der Kapitalseite ausgeliefert, eingeschränkt nur durch gesetzliche Regelungen wie das Arbeitszeitgesetz (siehe oben). Genau dieser Situation ist eine wachsende Zahl von Lohnabhängigen ausgesetzt. Die Tarifbindung nimmt immer mehr ab.

Wer als Partei ernsthaft eine „30-Stunden- oder 4-Tage-Woche für alle“ fordert (ob mit oder ohne „vollen Lohnausgleich“) kann eigentlich nur eine gesetzliche Regelung meinen (auch wenn er/sie es nicht so deutlich sagt). Denn weder tariflich, betrieblich oder individuell läßt sich dies momentan durchsetzen. Man kann es sich wünschen – aber da wären wir dann eben im Schlaraffenland. Tatsächlich gibt es ja bereits im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes alle möglichen individuellen Arbeitszeitregelungen, die aber eben nicht „für alle“ gelten und für die die Kapitalseite die Bedingungen stellt.

In unserem letzten Bundestagswahlprogramm haben wir die Forderung einer Verkürzung der gesetzlich zulässigen Wochenarbeitszeit laut AZG auf 40 Stunden gefordert. Das zu erreichen, wäre ein riesiger Fortschritt. Tatsächlich gilt es jetzt zunächst, die bestehende 48-Stunden-Regel zu verteidigen, denn das „Arbeitgeber“-Lager beabsichtigt, diese gesetzlich definierte Wochenhöchstarbeitszeit noch weiter auszudehnen. Leider ist dies die aktuelle Konfliktlinie, aber eben nicht im Schlaraffenland.

III.

Ein paar Bemerkungen zum Öffentlichen Dienst, der eine Sonderrolle einnimmt.

Komischerweise scheinen einige Bewohner des Schlaraffenlandes zu glauben, der Öffentliche Dienst könnte oder sollte bei der Verkürzung von Arbeitszeiten eine Vorreiterrolle spielen, was eine Umkehrung der bisherigen Entwicklung bedeuten würde, denn der Öffentliche Dienst hinkte in der Regel hinterher.

Und das hat zwei schlechte Hauptgründe, erstens: die öffentlichen „Arbeitgeber“, Staat und Kommunen, werden durch Arbeitskämpfe bzw. Streiks weniger empfindlich getroffen wie Produktionsbetriebe. Im Gegenteil: sie „sparen“ im Streikfall die Gehälter und können sich das aufmüpfige Geschehen erst einmal ruhig ansehen. Betroffen sind zunächst Bürgerinnen und Bürger, die öffentliche Dienstleistungen, z.B. Kitaplätze für ihre Kinder, nicht wahrnehmen können. Das setzt die Gewerkschaften erheblich unter Druck. Zweiter Grund: das Beamtenrecht. Hinzu kommt, daß die gewerkschaftliche Kampffähigkeit aufgrund diverser Privatisierungen ehemals kampferprobter Betriebsteile (z.B. Müllabfuhr, Stadtwerke, etc.) erheblich nachgelassen hat. Konnte man vor 10 oder 15 Jahren noch erwarten, daß ungefähr die Hälfte einer Tarifforderung durchgesetzt werden konnte, sieht es heute finster aus: in fast jeder Tarifrunde werden überlange Laufzeiten vereinbart, stufenweise Lohnerhöhungen werden addiert, die Ergebnisse „schöngerechnet“. Von einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung ist auf Seiten von Verdi in der aktuellen Tarifrunde für Bund und Kommunen keine Rede. Wenn überhaupt geht es um eine Angleichung des Ostens, wo noch 40 Stunden gearbeitet wird, an die 39 Stunden im Westen.

Eine baldige substantielle Verkürzung der Arbeitszeiten für alle im Öffentlichen Dienst, nehmen wir an: eine 35-Stunden-Woche als Einstieg in eine 30-Stunden-Woche, hätte ein paar „Kleinigkeiten“ zur Voraussetzung:

Ein Gewerkschaftseintritt von mehreren hunderttausend neuer Mitglieder, um überhaupt durchsetzungsfähig zu sein.

Eine gewaltige Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, um den Staat zu befähigen, die vielen notwendigen Neueinstellungen in den Öffentlichen Dienst finanzieren zu können (Reichensteuer, Vermögenssteuer, Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer, etc.) Denn die Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sollen ja erhalten bleiben und können nicht hauptsächlich durch höhere Produktivität (z.B. Digitalisierung) aufgefangen werden.

Schon jetzt hat der Öffentliche Dienst große Probleme, für bestimmte Bereiche ausreichend Fachkräfte zu finden (z.B. Ingenieure). Notwendig wären also kräftige Lohnerhöhungen, um den ÖD attraktiver zu gestalten. Auch dies müßte erkämpft werden. Natürlich alles vor dem Hintergrund einer erheblichen Staatsverschuldung infolge der Corona-Krise, wobei offen ist, wer die Zeche letzten Endes bezahlen wird.

Die Alternative wäre: die öffentlichen „Arbeitgeber“ führen „bedingungslos“ eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ein, einfach damit die „Beschäftigten“ ein schöneres Leben am Arbeitsplatz und in der Freizeit führen können…(wer könnte denn ernsthaft etwas gegen diese sinnvolle Maßnahme zur Erhöhung des Glücksgefühls aller haben?)…aber das wäre dann wieder… genau, das gewisse Land!

IV.

Ein Grundproblem in unserer Partei besteht in einem Mangel an Bereitschaft, sich mit der Staatsfrage zu befassen, mit der gegenwärtigen Herrschaftsform unserer Gesellschaft.  Staat im Kapitalismus hat die Aufgabe, die fortdauernde Akkumulation von Kapital und die Reproduktion der Produktionsverhältnisse nachhaltig sicherzustellen. Dazu gehören im Rahmen der Sozialgesetzgebung beispielsweise Regelungen in der Arbeitszeitfrage mit dem Ziel, unterschiedliche Klasseninteressen auszubalancieren, damit das Gesamtsystem der Reproduktion incl. des Faktors „Arbeitskraft“ möglichst reibungslos funktioniert – analog zu Klassenkompromissen im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen. „Staat“ im Kapitalismus verkörpert weder unmittelbar die Interessen der herrschenden Klassen nach grenzenloser Ausbeutung, noch ein gerne in den Raum gestelltes „Allgemeinwohl“. Um mit Nicos Poulantzas zu reden: er ist die „Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses“ zwischen Klassen und einzelnen Klassenfraktionen. In der gegenwärtigen Situation, also der Entstehung einer tiefgreifenden, weltweiten Krise, in der zudem die Arbeiter*innenbewegung fast überall in die Defensive gedrängt ist, sind Erwartungen an gesetzliche, also staatliche Regelungen zu allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen mehr oder weniger illusionär. Es fehlt eine mächtige sozialistisch-bewußte Basisbewegung, die dies durchsetzen könnte.

Das bedeutet nicht, in der Arbeitszeitfrage zu kapitulieren. Die Verkürzung von Arbeitszeit ist aufgrund des immerwährenden Produktivitätsfortschritts in jeder Entwicklungsphase des Kapitalismus wichtig und entspricht den zentralen Klasseninteressen aller Lohnabhängigen. Was kann DIE LINKE jetzt konkret dafür tun?

Zunächst gilt es, den Versuchen der Kapitaleigner zur Verlängerung des Arbeitstages und der Wochenarbeitszeit entgegenzuwirken, also das Erreichte zu verteidigen. Zugleich muß versucht werden, die Frage der Arbeitszeitverkürzung wieder zu einem wesentlichen Bestandteil gewerkschaftlicher Tarifpolitik zu machen (Bernd Riexinger hat darauf hingewiesen). Das ist langwierig und geht nicht ohne eine umfassende Stärkung der Gewerkschaften. Leider gefällt sich ein Teil der Mitgliedschaft der Partei in einer fast schon gewerkschaftsfeindlichen Attitüde nach der Devise: „Was soll ich denn in diesem von der SPD gesteuerten reformistischen Traditionsverein?“ Das ist weder schlau noch revolutionär. Lenins Diktum von den Gewerkschaften als „Schule des Klassenkampfes“ bleibt richtig (was nicht bedeutet, Lenin heute in allem anderen folgen zu sollen…). So komisch es klingt: wir müssen unsere eigenen Mitglieder, vor allem auch die vielen jungen Neumitglieder, zum Gewerkschaftseintritt motivieren. Und wir müssen – vielleicht sogar in Form einer Kampagne – darüber hinaus viele Menschen außerhalb der Partei davon überzeugen, sich gewerkschaftlich zu organisieren und nicht nur zahlendes, sondern gewerkschaftspolitisch engagiertes Mitglied zu werden.  Ohne eine erhebliche Stärkung der Gewerkschaften als Gegenmacht ist z.B. eine Forderung nach „vollem Lohnausgleich“ illusorisch.

Das erhöht auch die Anforderungen an Politische Bildung der LINKEN, die wieder und verstärkt grundlegende Erkenntnisse der politischen Ökonomie  vermitteln muß. Zur Zeit bewegt sich ein nicht geringer Teil der Partei gedanklich in Zielvorstellungen „bedingungsloser“ Umverteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts und eines schöneren Lebens – irgendwie für alle, als eine Art Menschenrecht, und vielleicht im Rahmen einer „rot-rot-grünen Bundesregierung“…

Rainer Beuthel / 07.09.2020