Zwischen den Stühlen

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Bericht vom Europaparteitag der LINKEN

Von Sascha Stanicic, Parteitagsdelegierter für die AKL

Der Höhepunkt des LINKE-Europaparteitags war nicht Teil der offiziellen Parteitagsberatung und wurde von einem Gast gesetzt: Pia Klemp, die Kapitänin der „Juventa“ und der „Seawatch3“, hielt eine Rede über ihre Arbeit im Rahmen der Seenotrettung, die gleichzeitig erschütterte und begeisterte. „Mit jedem Ertrinkenden im Mittelmeer, ertrinkt das Menschenrecht“ – mit diesem Satz sprach sie all denen aus der Seele, die an diesem Wochenende im Bonner World Conference Center in der EU kein humanistisches Friedensprojekt erkennen wollten. Das waren viele. Trotzdem konnte sich die Parteilinke nicht dabei durchsetzen, eine unmissverständliche und grundsätzliche Opposition zur EU festzuschreiben und beschlossen die Delegierten ein Wahlprogramm, dass hinsichtlich der Positionierung der Partei zur EU weder Fisch noch Fleisch ist.

Nachdem der Parteitag des Jahres 2018 – aufgrund der Debatte um und mit Sahra Wagenknecht und ihre migrationspolitischen Positionen – zu den lebhaftesten und kontroversesten in der mittlerweile zwölfjährigen Geschichte der Partei gehörte, war der Bonner Europaparteitag vom Kompromiss und der Vermeidung des Themas geprägt, welches für DIE LINKE in den letzten zwei Jahren zur Zerreißprobe geworden ist. Sahra Wagenknecht hatte ihre Teilnahme krankheitsbedingt absagen müssen und ihre Vereinigung „aufstehen“ hatte beim Parteitag keinen Info-Stand, verteilte kein Flugblatt und wurde auch so gut wie gar nicht erwähnt.

Das mag einerseits Ausdruck davon sein, dass bei „aufstehen“ schon wenige Monate nach der pompös verkündeten Gründung die Luft raus ist, andererseits aber auch zeigen, dass angesichts des Superwahljahres 2019 alle beteiligten Kräfte scheinbar nach dem Grundsatz „Einheit vor Klarheit“ verfahren und die tiefen bestehenden Kontroversen durch Formelkompromisse überdecken wollen. Das ist bei diesem Parteitag gelungen, aber eine solche Methode führt nicht zu Begeisterung, dementsprechend lau war die Stimmung und dementsprechend wenig Überraschungen gab es.

Was ist die EU?

Trotzdem wurde kontrovers debattiert um die Frage, was die EU ist und was für ein Europa DIE LINKE will. Hier standen sich vor allem zwei Pole gegenüber: die Antikapitalistische Linke (AKL) hatte einen ausführlichen Änderungsantrag zur Präambel des Wahlprogramms vorgelegt, in dem die EU als Bündnis kapitalistischer Staaten und als „neoliberal, undemokratisch und militaristisch“ bezeichnet wurde. Dieser Dreiklang, der auch im Erfurter Grundsatzprogramm der LINKEN benannt ist und im ursprünglichen Antragsentwurf des Parteivorstands stand, war kurz vor dem Parteitag durch den Parteivorstand mit einer anderen Formulierung ersetzt worden.

Schon vor der letzten Europawahl hatte es zu dieser Formulierung eine heftige Kontroverse gegeben und sie war von der damaligen Parteitagsmehrheit abgelehnt worden. Auch auf diesem Parteitag sprach sich unter anderem Gregor Gysi dagegen aus, die EU als militaristisch zu bezeichnen – ohne zu erklären, wie man die in der EU bestehende Aufrüstungsverpflichtung sonst bezeichnen sollte.

Der AKL-Antrag betonte, dass die EU nicht reformierbar ist (und dementsprechend auch kein „Neustart“ möglich ist) und stellte ihr die Perspektive eines sozialistischen Europa entgegen – eine Formulierung, die auch an anderer Stelle im Wahlprogramm zu finden ist, da sie auf Antrag von AKL-Genoss*innen schon im Parteivorstand beschlossen worden war.

Dem entgegen standen Anträge des forums demokratischer sozialismus (fds), die sich für eine „Republik Europa“ aussprachen und versuchten sich als die konsequentesten Gegner*innen des Nationalstaats darzustellen. AKL-Redner*innen wiesen darauf hin, dass eine Republik Europa auf kapitalistischer Basis kein fortschrittliches Projekt wäre.

Letztlich kamen diese Anträge zur Präambel gar nicht zur Abstimmung, weil mehrheitlich beschlossen wurde die Formulierungen des Programmentwurfs nicht zu ändern. Nun heißt es unter anderem: „Die Europäische Union braucht einen Neustart. Dabei müssen die vertraglichen Grundlagen revidiert werden, die zur Aufrüstung verpflichten, auf Militärinterventionen orientieren, die Anforderungen der demokratischen Gestaltung entgegenstehen und die neoliberale Politik wie Privatisierung, Sozialabbau oder Marktradikalisierung vorschreiben.“

Der Verzicht auf eine eindeutige Ablehnung der kapitalistischen EU wird oftmals mit einer Pro-EU-Stimmung unter LINKE-Wähler*innen und in der Gesamtbevölkerung begründet. Abgesehen davon, dass es fatal wäre, wenn eine sozialistische Partei ihre Grundsatzpositionen von Stimmungen abhängig macht, kann dem damit begegnet werden, zu erklären, dass ein Nein zu dieser kapitalistischen EU keine nationalistische Position darstellt, sondern als Ausgangspunkt für den Kampf für eine sozialistische Vereinigung Europas zu verstehen ist.

Insgesamt landet das Wahlprogramm in der Frage der EU zwischen allen Stühlen und lässt eine klare oppositionelle Haltung gegenüber diesem Club der Reichen und Mächtigen vermissen – was fatalerweise der rechtspopulistischen AfD das Feld radikaler EU-Kritik überlässt. Denn bei den Wählerinnen und Wählern wird weniger die teils differenzierte Debatte auf Parteitagen wahrgenommen, als die Haltung der LINKE-Spitzenkräfte. Und da war von Katja Kipping, Gregor Gysi und anderen allzu oft das Bekenntnis zur „europäischen Integration“ und die Angst vor einem Auseinanderbrechen der EU zu vernehmen – was nun einmal nicht nach radikaler Opposition klingt.

Radikale Worte

Bemerkenswert war jedoch, dass die Kompromisslinie mittels radikaler Rhetorik durchgesetzt wurde. Selten wurde so viel und von so unterschiedlichen Kräften vom Sozialismus gesprochen, wie bei diesem Parteitag. Katja Kipping betonte in ihrer Rede, dass die Mitglieder niemals vergessen dürfen, dass sie Sozialistinnen und Sozialisten sind. Die Vorsitzende der linken Fraktion im Europaparlament, Gabi Zimmer, zitierte das von italienischen Antifaschisten während des Zweiten Weltkriegs geschriebene Manifest von Ventotene mit den Worten: „Die europäische Revolution muss sozialistisch sein.“ Der Bundesgeschäftsführer und ehemalige Berliner Finanzsenator Harald Wolf erwiderte auf die Befürworter*innen der „Republik Europa“, warum sie sich nicht für ein sozialistisches Europa aussprechen, wenn sie eine Vision propagieren wollen. Diese radikalen Worte fanden kaum Entsprechung in den Beschlüssen des Parteitags, mit Ausnahme eines angenommenen Antrags, der sich für die Enteignung von Wohnungsspekulanten ausspricht.

Die Kompromisslinie konnte auch nur deshalb durchgesetzt werden, weil sie von Teilen der Parteilinken mitgetragen wurde. So haben sich Vertreter*innen der neuen Gruppierung Bewegungslinke (die vor allem aus Marx21 und dem linken Teil der bisherigen Sozialistischen Linken besteht) auf ihrem Vortreffen sehr deutlich gegen den AKL-Antrag ausgesprochen und den Vorschlag des Parteivorstands unterstützt.

Stärkung der Reformer*innen?

Es wäre aber auch falsch, eine Stärkung des Reformflügels aus dem Parteitagsverlauf abzulesen. Auch wenn Anträge des fds zum Thema „Republik Europa“ mit knapp 45 Prozent etwas mehr Stimmen erhielten als in der Vergangenheit und ein weiterer Änderungsantrag aus diesem Lager überraschend eine Mehrheit fand, drückt das sehr wahrscheinlich nicht aus, dass die Unterstützung für diesen Parteiflügel insgesamt gestiegen ist oder auch nur eine bewusste Unterstützung für das Konzept „Republik Europa“. Es ist den Vertreter*innen dieser Idee, wie Klaus Lederer und anderen, nur gelungen diese als positive und visionäre Antwort auf die heutige Europäische Union darzustellen, was wahrscheinlich bei einigen politisch weniger festgelegten Delegierten fruchtete.

Bedenklich ist es aber, dass Vertreter*innen der Landesverbände Brandenburg und Thüringen ein Podium erhielten, um ihre Regierungsbeteiligungen abzufeiern und dies so gut wie keinen Widerspruch erntete und auch, dass die Bremer Spitzenkandidatin der LINKEN ihre Rede widerspruchslos dazu nutzen konnte, eine erste rot-rot-grüne Koalition in einem westdeutschen Bundesland argumentativ vorzubereiten.

Venezuela-Debatte

Zu großer Aufregung bei der Kommunistischen Plattform und anderen Parteilinken führte die Tatsache, dass der Parteitag aus Zeitgründen beschloss, alle weiteren Anträge an Bundesausschuss und Parteivorstand zu überweisen. Dazu gehörten auch Anträge, die sich mit der aktuellen Situation in Venezuela und dem Verhältnis Deutschlands zu Russland beschäftigten. Es entspricht nicht der Tatsache, wenn nun einige, wie das PV-Mitglied Harri Grünberg, öffentlich behaupten, der Parteitag habe diese Anträge abgelehnt. Sie wurden schlicht nicht behandelt. Es wäre sicherlich sinnvoll gewesen, wenn vom Parteitag ein klares Signal gegen die Umsturzversuche in Venezuela ausgegangen wäre, abgelehnt wurde das aber nicht. Eine Solidaritätsaktion gegen den Umsturzversuch in Venezuela gab es aber auf der Bühne des Parteitags. Leider vertreten diejenigen Kräfte der Parteilinken, die dieses Thema beim Parteitag besetzten, eine unkritische Position gegenüber der derzeitigen Maduro-Regierung. Die Slogans auf den Schildern und Transparenten waren „Hands off Venezuela – Vorwärts zum Sozialismus“ – was nur so verstanden werden kann, als wenn eine reine Verteidigung der Regierung Maduros ein Schritt zum Sozialismus wäre. Nötig ist stattdessen, dass sowohl der von den USA und anderen imperialistischen Staaten unterstützte Umsturzversuch zurück geschlagen wird und eine gegen die bürokratische Maduro-Regierung gerichtete Position für den Kampf um eine sozialistische Demokratie eingenommen wird.

Wahlen

Bei den Wahen der Kandidat*innen-Liste zum Europaparlament gab es auf den als aussichtsreich geltenden ersten acht Listenplätzen keine Überraschungen und der Parteitag folgte dem Vorschlag des Bundesausschuss. Mit Martin Schirdewan und Özlem Demirel wurde mit Wahlergebnissen von 83 bzw. 84 Prozent ein Vertreter des Reformflügels und die der Parteilinken zuzurechnende Demirel als Spitzenkandidat*innen gewählt. Mit Claudia Haydt wurde auch eine AKL-Mitglied auf Platz Sieben der Liste gewählt. Überraschenderweise verlor die Berliner Parteilinke Judith Benda die Wahl auf Platz Neun gegen die schleswig-holsteinische Landessprecherin Marianne Kolter.

Fazit

Der Parteitag war in jeder Hinsicht ein Kontrapunkt zum Leipziger Parteitag von 2018. Das mögen einige als positiv werten weil die Partei geschlossener auftrat. Dieser vermeintlichen Geschlossenheit wurde aber die Möglichkeit geopfert, eine unzweideutige Haltung einzunehmen. Es ist davon auszugehen, dass auf dieser Basis ein begeisternder Europawahlkampf schwer umsetzbar wird und, was wichtiger ist, die Orientierung auf eine Fortsetzung der Regierungsbeteiligungen in Thüringen und Brandenburg den Trend nicht umkehren werden, dass die AfD der LINKEN im Osten Stimmen raubt. Ein Wiederaufflammen der parteiinternen Auseinandersetzungen nach den ostdeutschen Landtagswahlen ist daher zu erwarten. Das kann einhergehen mit dem möglichen Ende der Großen Koalition und eventuellen Neuwahlen zum Bundestag. Darauf muss sich die Parteilinke von jetzt an vorbereiten.

Die AKL war auf diesem Parteitag noch mehr als bei früheren, die sichtbarste linke und sozialistische Stimme der Opposition gegen Anpassung an die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse und Institutionen. Wenn sie das in den nächsten Wochen und Monaten in die Gewinnung neuer Mitglieder übersetzt, kann sie deutlich gestärkt aus diesem Jahr hervorgehen.