Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und die soziale Frage

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Am 14.01.2018 veranstaltete die AKL eine Podiumsdiskussion zum Thema „Katalonien – eine demokratische und soziale Bewegung für Unabhängigkeit?“ in Berlin-Lichtenberg. Es debattierten Andrej Hunko (MdB, DIE LINKE und Mitglied des Parteivorstandes) und Ferran Cornella (CUP) über die Frage nach nationaler Unabhängigkeit und den linke Perspektiven dieses Kampfes. Der Beitrag von Ferran soll hier dokumentiert werden.

Anfang April 2016 kippte das spanische Verfassungsgericht das „Gesetz gegen Energiearmut“ in Katalonien. Dieses Gesetz wurde zuvor vom katalanischen Parlament verabschiedet, um die ärmsten Haushalte vor der Kälte im Winter zu schützen. Das Gesetz schränkte die Macht der Strom- und Gasversorgungsunternehmen ein, indem es diese daran hinderte, die Strom- oder Gasversorgung bei Nichtbezahlung abzustellen. Deshalb und weil es die Profite der Energieunternehmen beschnitt, zog die spanische Regierung gegen das Gesetz vor das Verfassungsgericht, welches es schließlich für rechtswidrig erklärte.

Einen Monat später wurde auch ein Gesetz annulliert, welches Zwangsräumungen verhinderte und zudem Finanzunternehmen verpflichtete, leerstehende Wohnungen an die öffentliche Hand zu übergeben.

Diese beiden Gesetze wurden 2015 in das katalanische Parlament auf Druck einer Volksinitiative eingebracht, die von der Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) und anderen sozialen Bewegungen gestützt wurde. Ihr Ziel war es, dringend notwendige Maßnahmen durchzusetzen, um die soziale Armut in Katalonien zu bewältigen, da sich das Land schon damals in einer schweren Wirtschaftskrise befand. Nach Angaben der PAH fanden zum Zeitpunkt der Volkspetition im Durchschnitt jeden Tag 43 Zwangsräumungen und 443 Wasser- und Stromsperrungen statt. Die Volksinitiative forderte daher weitreichende Maßnahmen zugunsten von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohter Menschen und ihren Schutz vor Zwangsräumungen. Innerhalb von nur vier Monaten gelang es der PAH und den anderen sozialen Bewegungen fast 150.000 Unterschriften in Katalonien zu sammeln – dreimal mehr als für das Gelingen der Volksinitiative rechtlich notwendig waren. Der außerparlamentarische Druck war letztlich so groß, dass sich auch das katalanische Parlament dem Begehren der Volksinitiative anschloss.

Die negativen Urteile des spanischen Verfassungsgerichts zum Gesetz gegen Energiearmut und zum Gesetz gegen Zwangsräumungen waren nur der Beginn eines Angriffs auf eine ganze Reihe von wichtigen sozialen Maßnahmen, die in den vorangegangenen Jahren vom Parlament Kataloniens beschlossen worden waren. Es folgte die Annullierung des Gesetzes gegen Fracking, des Gesetzes zur Besteuerung von Kernkraftwerken und des Gesetzes zur Gleichstellung der Geschlechter. Auch das Gesetz zur Besteuerung leerstehender Wohnungen und das „Gesetz gegen den Klimawandel“ wurden aufgehoben und die Legalisierung von Cannabis rückgängig gemacht.

Das Gesetz für die Geschlechtergleichstellung verbot in den Unternehmen jedwede sexuelle Belästigung und Benachteiligung wegen des Geschlechts, es regelte die Umsetzung von Gleichstellungsplänen, garantierte Frauen das Recht auf Mitwirkung an Tarifverhandlungen und sollte Frauen in Schwangerschaft und Stillzeit vor Gesundheitsrisiken schützen. Das Gesetz gegen den Klimawandel sah vor, dass die Kernkraftwerke – in Katalonien existieren zwei davon – bis spätestens 2027 geschlossen werden sollten. Und nach dem bereits erwähnten Gesetz zu den leerstehenden Wohnungen sollten selbige, die im Besitz von Finanzunternehmen standen, besteuert werden.

Die politische Linke und die vielfältigen außerparlamentarischen Organisationen, die den Unabhängigkeitsprozess in Katalonien vorantreiben, haben immer wieder den Charakter desselbigen als sozialen Prozess betont, da es hierbei vor allem um den Kampf für eine sozialere Entwicklung geht, gegen die sich die spanische Regierung mit aller Kraft stemmt. Davon zeugen nicht zuletzt die oben genannten Auseinandersetzungen um soziale Gesetze wie auch die Sensibilisierung und Aktivierung von immer mehr Menschen für die sozialen Kämpfe.

Die Angriffe der Regierung in Madrid auf die Unabhängigkeitsbewegung haben in letzter Zeit erheblich an Aggressivität zugenommen. Insbesondere die rechten konservativen Kräfte Spaniens versuchen mit allen Mitteln und Tricks soziale Fortschritte zunichte zu machen. So hat die konservative spanische Partei Partido Popular (PP) seit der Zustimmung zum veränderten Autonomiestatus Kataloniens im Jahr 2006  Rechtsmittel gegen 46 vom katalanischen Parlament verabschiedete Gesetze eingelegt, die alle vom spanischen Verfassungsgericht komplett kassiert oder bedeutend verschlechtert worden sind. Diese antisozialen und dem Willen der katalanischen Bevölkerung widersprechenden Akte folgten letztlich den Vorgaben des spanischen Establishments, das nicht bereit ist, soziale Zugeständnisse zu akzeptieren und ihre Privilegien aufzugeben.

Fragwürdig ist in diesen Auseinandersetzungen insbesondere auch die Rolle des Verfassungsgerichts. In Spanien mangelt es an einer echten Gewaltenteilung. Die judikative Gewalt wird allzu oft von der herrschenden politischen Elite in Geiselhaft genommen und kann damit nicht als wirklich unabhängig gelten. Das ist ein strukturelles Problem, das auf die Verfassung von 1978 zurückgeht. Und so benutzt die Zentralregierung in Madrid das Verfassungsgericht regelmäßig als bloßes Werkzeug gegen den katalanischen Unabhängigkeitsprozess. Dass es um die Unabhängigkeit der spanischen Justiz schlecht bestellt ist, hat unlängst sogar das Weltwirtschaftsforum – linker Ansichten unverdächtig – zugeben müssen, als es die Unabhängigkeit der Justiz in Spanien auf einen für westeuropäische Verhältnisse miserablen 58. Platz rangierte und damit unterhalb von Staaten wie Saudi-Arabien und Botswana.

Hinzukommt, dass in Spanien eine Aufarbeitung der Verbrechen des faschistischen Franco-Regimes bis heute nicht stattgefunden hat. Auch heute noch gibt es in Spanien einflussreiche Gruppen und Personen die sich positiv auf das franquistische Erbe berufen und den Zeitgeist nach rechts verschieben. Diese geistig-kulturelle Atmosphäre erschwert es linken Parteien und außerparlamentarischen Gruppen, soziale und demokratische Fortschritte zu erkämpfen.

Der katalanische Unabhängigkeitsprozess begehrt auch gegen diese Geschichtsvergessenheit und den fahrlässigen Umgang mit der Franco-Diktatur auf. Er bringt soziale Fragen auf die politische Tagesordnung und belebt damit die politische Debatte. Der Unabhängigkeitsprozess hat somit – entgegen nicht weniger Kommentare in den Mainstreammedien – ein insgesamt fortschrittliches Gepräge, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Ein Beitrag von Ferran Cornella, Candidatura D’Unitat Popular (CUP).