Deutschland in der politischen Krise

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Nach dem Aus der Jamaika-Verhandlungen wächst die Instabilität

Das Scheitern der Sondierungsgespräche zur Bildung einer Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen kam für die meisten überraschend. Zu unwahrscheinlich mutete es an, dass PolitikerInnen deren Machtgeilheit unumstritten ist und die alle im Interesse der großen Banken und Konzerne handeln, vor dem Hintergrund einer relativ stabilen ökonomischen Situation und hoher Haushaltsüberschüsse, eine politische Krise auslösen würden, wie sie es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gab. Aber so ist es gekommen. Warum? Und wie wird es weiter gehen?

Von Sascha Staničić

Der Bösewicht ist schnell ausgemacht: Christian Lindner und die FDP haben die Sondierungsgespräche platzen lassen, hatten möglicherweise niemals vor, diese zu einem erfolgreichen Abschluss kommen zu lassen. VertreterInnen von CDU, CSU und Grünen erklärten nach dem Abbruch der Gespräche unisono, dass sie eine Einigung für möglich gehalten hatten. Tatsächlich schien das „platzen lassen“ der Sondierungen durch die FDP gut vorbereitet und spricht viel dafür, dass die Führung der Liberalen zum einen Sorge hatte, ihr könne nach einer Legislatur als Juniorpartner in einer Regierung Merkel wieder das passieren, was ihnen nach der schwarz-gelben Regierung 2009 bis 2013 widerfahren war – der Absturz unter die Fünf-Prozent-Hürde und der Rauswurf aus dem Bundestag. Und dass sie zum anderen der politischen Kalkulation folgt, ein Scheitern unter dem nun propagierten Motto „Besser nicht regieren, als falsch“ könne ihr bei Neuwahlen ein besseres Ergebnis einbringen. Vieles spricht dafür, dass dies eine Fehlkalkulation wäre, denn die FDP wurde von vielen gewählt, um eine Große Koalition zu verhindern – eine solche ist jetzt aber wieder näher gerückt.

Es mögen die parteipolitischen Eigeninteressen des Yuppies Christian Lindner und seiner extremistisch-neoliberalen FDP sein, die der Auslöser für das Scheitern der Sondierungsgespräche waren, tiefer liegende Gründe finden sich aber woanders. Das politische System der Bundesrepublik ist aus den Fugen geraten, die Vertrauenskrise der bürgerlichen Parteien und Institutionen so groß, dass sie nicht mehr wissen, wie sie damit umgehen sollen. Die Angst vor dem politischen Selbstmord wird so stark, dass parteipolitische Eigeninteressen schwerer wiegen, als das, was „Staatsverantwortung“ genannt wird (und die Verantwortung die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse in stabiler Form aufrecht zu erhalten meint). Die Folge: es entstehen Situationen, die nicht den Gesamtinteressen der eigentlich herrschenden Klasse aus KapitalbesitzerInnen entsprechen. Das politische System funktioniert nicht mehr einwandfrei in ihrem Interesse. Das ist ein weltweites Phänomen, das in den letzten zwei Jahren vor allem mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten, dem Brexit-Votum und der Unabhängigkeitserklärung Kataloniens deutlich wurde.

Inhaltliche Hürden waren überbrückbar

Das sind noch keine Weimarer Verhältnisse. Dafür ist die ökonomische und gesamtgesellschaftliche Situation zu stabil. Aber es ist ein Wetterleuchten für die Art von politischen Krisen, die kommen werden, wenn die Wirtschaft vom Aufschwung in den Abschwung oder gar in einer Krise gerät.

An den tatsächlich inhaltlichen Differenzen lag das Scheitern der Sondierungsgespräche nicht, zumindest nicht in erster Linie. Die Grünen haben einmal mehr bewiesen, dass sie bereit sind für einen Platz auf der Regierungsbank ihre Prinzipien über Bord zu werfen – egal ob beim Thema Verbrennungsmotor, Kohlekraftwerke oder Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten. Selbst bei letzterem zeigten sie sich am Sonntag bereit zu einem faulen Kompromiss (Stichwort: „atmender Rahmen“ bei 200.000 Geflüchteten). Nur beim Thema Familiennachzug für Geflüchtete waren sie scheinbar hart geblieben. Ein Thema, wo es zweifellos zum Kompromiss hätte kommen können, denn erst kürzlich hat eine Studie ergeben, dass die Zahl der zu erwartenden nachzuholenden Familienmitglieder von Geflüchteten deutlich niedriger ist, als in den letzten zwei Jahren von AfD bis CDU/CSU verbreitet wurde.

Abgesehen davon hatten sich die SondiererInnen schon auf nicht wenige Maßnahmen im Interesse der Arbeitgeber geeinigt, wie zum Beispiel eine weitere Flexibilisierung von Arbeitszeitregeln anzugehen.

Was nun?

Was nun? Eigentlich spricht alles für Neuwahlen, auch wenn der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Wort in seiner Erklärung vom gestrigen Montag nicht in den Mund nahm, sondern an das Verantwortungsgefühl der Parteien appellierte und den Eindruck erweckte, er wolle diese dazu drängen noch einmal in der Jamaika-Runde an den Verhandlungstisch zurückzukehren oder aber die SPD überzeugen, sich doch für eine Große Koalition mit CDU und CSU zu öffnen – eine Koalition übrigens, die alles andere als groß wäre.

Das ist unwahrscheinlich und wurde vom SPD-Parteivorstand am Montag Nachmittag in einem einstimmigen Votum abgelehnt. Nach dem Wahlerfolg in Niedersachsen hofft die SPD berechtigterweise, dass sie bei Neuwahlen den einen oder anderen Prozentpunkt zulegen könnte.

Noch unwahrscheinlicher ist, dass die JamaikanerInnen es sich noch mal anders überlegen. Über so große Schatten kann niemand springen und es ist auch gar nicht klar, wer denn in welcher Frage was für ein Zugeständnis machen müsste.

Eine Minderheitsregierung wäre für die Bundesrepublik ein weitaus größeres und gefährlicheres Novum, als Neuwahlen und würde eine instabile Regierung bedeuten, die nicht nur innenpolitisch wenig durchsetzen könnte, sondern vor allem auch außenpolitisch das Gewicht des deutschen Imperialismus untergraben würde. Und das in mehr als schwierigen außenpolitischen Zeiten, in denen Merkel gerade erst als neue Führerin der freien Welt gefeiert wurde, um nun zur „lame duck“ zu werden.

Kenia? Neuwahlen?

Bleiben also Neuwahlen. Ist das tatsächlich so? Interessanterweise lehnt die SPD nur einen Eintritt in eine Große Koalition ab. Ein, sicher auch sehr ungewöhnliches, aber über größere inhaltliche Schnittmengen verfügendes Regierungsbündnis sollte aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden: eine schwarz-rot-grüne „Kenia“-Koalition. Schließlich nutzen CDU/CSU und Grüne gerade jede Gelegenheit, um zu betonen, wie gut sie miteinander können. Eine solche Koalition würde über eine größere parlamentarische Mehrheit verfügen, der FDP die Möglichkeit geben in der Opposition der AfD Konkurrenz zu machen und der SPD die Gelegenheit geben, das Gesicht zu wahren, weil das Gewicht der Union im Vergleich zur Großen Koalition gemindert wäre. Doch auch das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil die CDU/CSU dann fürchten müsste, dass die Zentrifugalkräfte in ihren Reihen wachsen und die Landtagswahlen in Bayern erst recht verloren gehen.

Theoretisch wäre auch eine schwarz-rot-gelbe „Deutschland“-Koalition eine Möglichkeit, aber das FDP-Gebaren macht doch eine Rückkehr der Liberalen auf die Regierungsbank gerade sehr unwahrscheinlich.

Bleiben also Neuwahlen. In den Medien wird eine Stärkung der AfD bei solchen als gegeben betrachtet. Vieles spricht dafür, denn das Scheitern von Jamaika wirkt wie eine Bestätigung der AfD und auch in Umfragen legen die Rechtspopulisten eher etwas zu, als dass sie verlieren würden. Das relativ schwache Abschneiden bei den Landtagswahlen in Niedersachsen im Oktober war wohl mehr auf lokale Faktoren zurückzuführen, als auf eine sich wandelnde Stimmung unter vormaligen AfD-WählerInnen. Aber es sollte nicht unterschätzt werden, dass die meisten Menschen doch lieber eine Regierung haben als keine Regierung. Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass es bei Neuwahlen einen „Wunsch-nach-Stabilität“-Effekt geben kann, der die AfD und die FDP schwächt und CDU/CSU und SPD stärkt, möglicherweise auch, weil mancheR AfD-WählerIn doch wieder zu Hause bleibt, schließlich hat der Denkzettel vom 24. September gesessen.

DIE LINKE

DIE LINKE kann aus Neuwahlen als Gewinnerin, aber auch als Verliererin hervorgehen. Das hängt gänzlich davon ab, wie sich die Partei jetzt aufstellt und mit welchem politischen Profil sie in den Wahlkampf gehen wird. Dazu muss ab sofort eine breite und demokratische, die Basis einbeziehende Debatte organisiert werden.

Leider spricht viel dafür, dass die Führungskräfte die Chance vergeben werden, dass DIE LINKE nach Neuwahlen gestärkt sein wird. Die öffentlich ausgetragenen Machtkämpfe und die Erpressungsversuche Sahra Wagenknechts gegenüber der LINKE-Bundestagsfraktion haben der Partei in den letzten Wochen schon enorm geschadet. Nun ist damit zu rechnen, dass Sahra Wagenknecht ihre falschen Positionen zur Migrationsfrage in einem möglichen Bundestagswahlkampf vertreten wird und der Wahlkampf im Sinne der von Lafontaine propagierten „neuen linken Sammlungsbewegung“ (was man als einen schön klingenden Begriff für eine Schwächung demokratischer Parteistrukturen und eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit der SPD-“Linken“ interpretieren kann) noch mehr vom „Team Sahra“ als der Partei geführt werden soll. Das wäre ein Rezept für innerparteilichen Streit bis zum und wahrscheinlich auch während des Wahlkampfs und würde LINKE-Mitglieder demotivieren.

Wenn Bernd Riexinger und Katja Kipping, wie in ihren Reaktionen auf das Scheitern von Jamaika herauszuhören war, mehr oder weniger offensiv für einen Lagerwahlkampf mit der SPD gegen die Jamaika-Parteien werben, werden sie ein gutes Abschneiden der LINKEN von der anderen Seite untergraben. Denn eines ist sicher: es wird keine Mehrheit für R2G geben und das weiß jeder. Wenn CDU/CSU und SPD aus Neuwahlen auch nur minimal gestärkt hervor gehen werden, werden sie das als „Auftrag“ zur Bildung einer Großen Koalition verkaufen. Niemand in der SPD hat aus den Wahlen vom 24. September die Schlussfolgerung gezogen, dass die Zukunft der Partei in Regierungsbündnissen mit der LINKEN und den Grünen zu finden sei. Dementsprechend unsinnig ist es, wenn Bernd Riexinger jetzt davon spricht, man müsse eine linke Alternative zum neoliberalen Block bilden und damit offensichtlich nur die Jamaika-Parteien meint und implizit einem „linken Lager“ aus SPD und Linkspartei das Wort redet. Es ist aber auch politisch falsch, wie wir immer wieder erklärt haben. Die mit viel Pomp vorgetragene Haltung der FDP (die in Wirklichkeit nur die Schminke über ihren rein parteitaktischen Erwägungen ist), sich nicht an einer Regierung zu beteiligen, die keine „liberale Handschrift“ habe, würde der LINKEN gut zu Gesicht stehen. Und das bedeutet klar zu sagen: eine Regierung mit „sozialistischer Handschrift“ kann es mit SPD und Grünen nicht geben. Deshalb will DIE LINKE stärkste Oppositionskraft werden, der AfD diese Position streitig machen und gegen die arbeiterfeindliche Politik kämpfen, die von jeder möglichen Regierungsoption nach etwaigen Neuwahlen zu erwarten ist.

Die Partei sollte die Ergebnisse der Bundestagswahlen noch einmal genau anschauen und daraus die nötigen Schlussfolgerungen ziehen: im Osten (einschließlich Ost-Berlin) massiv verloren, wo DIE LINKE kommunal und in drei Landesregierungen an Regierungen mit der SPD beteiligt ist, den Mangel mitverwaltet und nicht mehr als Protest- und gesellschaftliche Oppositionskraft wahrgenommen wird. Im Westen in vielen Städten dazu gewonnen, wo es eine aktive Parteibasis gibt, die die Partei mit sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen verbindet und als Anti-Establishment-Kraft präsentiert.

Die Wahlplakate der LINKEN in Münster.

DIE LINKE muss ab sofort in (Wahl-)Kampfmodus übergehen. Die erste Entscheidung des neuen (kommissarischen) Bundesgeschäftsführers Harald Wolf sollte sein, die Wahlplakate der Bundestagswahl (so sie denn noch in irgendwelchen Kellern liegen) in den Reißwolf zu geben und die Münsteraner Plakate (siehe Foto) als Plakate für einen (Neu-)Wahlkampf vorzuschlagen. Dann sollte der Parteivorstand beschließen, eine klaren antikapitalistischen und oppositionellen Wahlkampf gegen die Reichen und gegen alle etablierten Parteien zu führen – mit Slogans wie „Obergrenzen für Reichtum – nicht für Menschen“, „Die wahren Sozialschmarotzer: Steuerflüchtlinge!“, „Klima statt Kapitalismus!“ und, in Anlehnung an den Wahlkampf von Bernie Sanders in den USA: „Brecht die Macht der Milliardärs-Klasse!“

Wenn sich DIE LINKE als die Partei präsentiert, die die Rettung des Klimas und die Solidarität mit Geflüchteten nicht zur Verhandlungsmasse macht, wird sie solche Grünen-WählerInnen erreichen können, die die Grünen aus fortschrittlichen Erwägungen gewählt haben. Beim Thema Geflüchtete und Migration muss gelten: keine Aufweichung der Positionen der Partei, uneingeschränkte Solidarität mit Geflüchteten und gleichzeitig muss DIE LINKE deutlich machen, dass die Reichen dafür zahlen müssen und der gemeinsame Kampf aller Menschen, egal welcher Hautfarbe oder Nationalität, für günstigen Wohnraum, einen höheren Mindestlohn und gute Jobs nötig ist.

Es muss ein Wahlkampf vorbereitet werden, der sich in vielen Punkten vom Wahlkampf in diesem Jahr unterscheidet: deutlicher gegen das kapitalistische Establishment, klarere Forderungen und praktisch an der Seite von Menschen, die sich gegen soziale Ungerechtigkeit zur Wehr setzen, wie die Beschäftigten von Siemens.

Mit eindeutigen Forderungen nach der Rücknahme der Agenda 2010, 12 Euro Mindestlohn ohne Ausnahmen, einer gesetzlichen Mindestpersonalregelung für die Pflege, dem Verbot von Leiharbeit und sachgrundlosen Befristungen und dem Verbot von Rüstungsexporten könnte DIE LINKE deutlich machen, dass nur sie für eine Politik im Interesse der Millionen statt der Millionäre und Milliardäre eintritt – und würde gleichzeitig die von sozialer Gerechtigkeit schwadronierende SPD vorführen, die keiner solchen konkreten Forderungen zustimmen wird.

Sascha Staničić ist Bundessprecher der SAV und aktiv in der LINKEN Neukölln und der Antikapitalistischen Linken (AKL).