„Und wieder: Wir stellen die „Gewaltfrage“ als Systemfrage“

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Stellungnahme von LISA NRW zum G20 Protest, zu Gewalttätern und zu Solidarität

Vom 7. bis 9. Juli kam es im Rahmen der G20 – Proteste zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen
und Zerstörungen, die außerhalb des Aktionskonsenses des Block G20-Bündnisses lagen. Medial
wurden diese Aktionen genutzt, um den Protest von Tausenden zu delegitimieren und zu diffamieren.
Sie werden jetzt politisch missbraucht, um wieder einmal die Diskussion über eine Einschränkung des
Demonstrationsrechts zu legitimieren. Das rechtswidrige Vorgehen der Polizeiführung und der
politisch Verantwortlichen, das bereits im Vorfeld der zu massiven Einschränkungen der Proteste
führte, soll im Nachhinein gerechtfertigt werden.
Wir stellen uns deshalb erneut die Frage, von wem Gewalt ausgeübt wird. Wir stellen aus unserer
antikapitalistischen, feministischen Sicht die Frage, wer hier über Gewalt redet, von wem Gewalt
ausgeht und wer die Angst vor Gewalt missbraucht, um politische Interessen durchzusetzen.

1. Gewalt ist für Frauen nicht die Ausnahme, sondern Alltag. Unsere im Kapitalismus zugeteilte
Aufgabe ist es, aufzufangen, zu heilen, zu lindern, im Privaten, im Beruf und auch oft im
Politischen. Die Arbeit der Frauen findet im Schatten statt. Sie ist nichts wert – oft nicht
einmal den Frauen. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist geprägt von der Gewalt,
die der Kapitalismus Tag für Tag dem Leben aller antut. Was für Frauen der Alltag immer ist,
wird in der Krise der Alltag fast aller Menschen, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft
zu verkaufen, um leben zu können. Wir erleben das seit Jahrzehnten in den Ländern der
„Dritten Welt“ und nun immer näher rückend mit den Auswirkungen der Krise des
Kapitalismus in den Ländern des Südens Europas. Die Krise der Frauen wirft in der Krise als
Krise der Reproduktion mit Gewalt die Frage nach dem Überleben aller auf. Keine Arbeit,
kein Obdach, keine Krankenversorgung, kein Lohn, keine Rente, keine Nahrung, keine
Zukunft, keine Hoffnung – das alles sind Symptome der Krisenpolitik der EU und Synonyme
für Gewalt. Der alltägliche Kampf von Frauen in Kapitalismus und Patriarchat zeigt sich in der
Krise als Kämpfe in den Gesundheitszentren Griechenlands, den Hausbesetzungen in
Spanien, den Platzbesetzungen in Portugal, als Widerstand der Frauen in der Türkei gegen
das restriktive Frauenbild Erdogans, seine repressive Politik insgesamt und in den
Fluchtbewegung nach Europa. Diese Gewalt wird aktiv ausgeübt: von den Herrschenden. Die
Mächtigen dieser Welt, Trump, Erdogan und Merkel beschäftigen sich mit Kennzahlen, um
das Anwachsen weiblicher Arbeitskräfte messen zu können. Es ist eine Form von Gewalt,
wenn Frauen, die es – betrachtet durch die kapitalistische Brille – geschafft haben, urteilen
über uns, Frauen, eingepresst in das Hartz IV Regime, Aussicht auf Altersarmut, 3 Minijobs
gleichzeitig, alleinerziehend und immer am Limit. Täglich stellen sich Frauen gegen
sexualisierte Gewalt. Täglich erleben Frauen Gewalt. Tagtäglich erfahren Frauen, egal ob in
der Politik oder im Berufsleben, dass Männer über Frauen ganz selbstverständlich verfügen.
Trump ist mit seiner Aussage „grap them by the pussy“ nur eine Karikatur dessen, was
Frauen tagtäglich erleben.

2. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wer Gewalt ausübt, macht sich mit
der moralischen Empörung gegen die Anwendung von Gewalt und Zerstörung durch andere
lächerlich. Wir weisen den Anspruch von führenden Politikern aus SPD, Grünen, CDU und
FDP zurück, sich glaubwürdig über brennende Autos, fliegende Steine und andere Taten im
Umfeld der G20 – Proteste zu empören. Mit den Worten Naomi Kleins sagen wir ihnen: Ihr
zündet keine Autos an. Ihr setzt den ganzen Planeten in Brand. Und die Empörung ist groß:
Es wäre ein guter Schritt, wenn die ertrunkenen Menschen im Mittelmeer für eine Empörung
sorgten, wie ein ausgebranntes Auto.

3. Wir müssen und wollen uns mit dem auseinandersetzen, was am Wochenende am Freitag
und Samstag geschah. Blicken wir zurück: Bereits vor den Protesten wurde die Innenstadt
eine einzige Verbotszone. Von Anfang an war klar, dass die Versammlungsbehörde kein
Protestcamp in Hamburg dulden wird. Das gerichtlich erlaubte Camp in Entenwerder wurde
mit Pfefferspray-Einsatz geräumt. Die Versammlungsfreiheit als Grund- und Menschenrecht
– das galt in Hamburg nicht.
Werfen wir einen Blick auf den Aktionskonsens: „Viele von uns werden ihr Recht auf
körperliche Unversehrtheit durch körperschützende Maßnahmen verteidigen. Von uns wird
dabei keine Eskalation ausgehen.“
So sah die Aktion aus, an der wir als LISA unter dem Motto „Zone war gestern, grenzenlos
feministisch“ teilgenommen haben. Unsere Aktion war erfolgreich: Mit mehreren Tausend
Genoss*innen haben wir das getan, was wir angekündigt haben: Wir sind in die Blaue Zone
eingedrungen. Wir waren da, wo wir nicht sein sollten. Wir haben unser Recht auf
Versammlungsfreiheit wahrgenommen und durchgesetzt. Es war ein gemeinsamer Erfolg.
Gemeinsam haben wir die Gewalterfahrung gemacht, den brutalen Einsatz von
Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstockeinsatz Erlebt. Nie zuvor sind wir bei einer
Aktion auf so unkalkulierbare, beängstigende, furchteinflößende und brutale Polizeieinsätze
gestoßen, nicht bei Blockupy, nicht bei Ende Gelände, nicht bei den Castortransporten im
Wendland. Es gab aber Momente, die größer waren: solidarische Anwohner, die Kaffee über
den Balkon reichten, die Bewohner*innen eines Altersheimes, die sich solidarisch zeigten,
der Zusammenhalt unter uns. Und wir bedanken uns bei denen, die uns dazu noch Sicherheit
gaben: den Demo-Sanitäter*innen, den Anwält*innen und den parlamentarischen
Beobachter*innen.
Mit der Blockade am Freitag war Block G20 als organisierte Aktion beendet. Das Bündnis
steht nicht in der Verantwortung der Gewaltspirale im Schanzenviertel. Die Verantwortung
für diese Exzesse liegen in einer Gesellschaft, in der Gewalt der Normalfall ist – staatlich
ausgeübt bis weit ins Private hinein. Gewalt erzeugt Gegengewalt, wenn nicht
Konfliktlösungen gesucht werden. Diese Suche fand in Hamburg von Seiten der
Verantwortlichen nicht statt. Wir fragen uns: Wem nutzen diese Bilder?

4. Die Frage nach der Anwendung von Gewalt ist eine Grundsatzfrage von Protest, Ungehorsam
und Widerstand. Wir suchen gemeinsam Antworten und führen die Debatte miteinander und
mit allen, denen es tatsächlich um die Frage der Legitimität von Gewaltanwendung geht. Und
wir führen sie nach unseren Regeln und nicht nach den Regeln derer, die meinen, uns sagen
zu können, was wir tun dürfen und was nicht. Wir reden mit den Akteur*innen, die mit uns
gemeinsam diese Welt zu einer friedlichen Welt machen wollen. Wir entscheiden selbst, mit wem wir reden und worüber. Wir diskutieren nicht nach den Regeln der politischen
Gewalttäter, die für die Gewalt in der Welt verantwortlich sind. Mit unseren Worten: „Wir
sagen was wir tun und wir tun was wir sagen“ stecken wir unsere gemeinsamen Grenzen des
Handelns ab. Unser Handeln unterscheidet sich von denen, die mit Krokodilstränen
ertrinkende Flüchtlinge in den Meeren beklagen und gleichzeitig durch ihre mörderische
Politik verantwortlich sind dafür. Unser Handeln unterscheidet sich von denen, die
Kinderarmut in unserem so reichen Land beklagen, aber verantwortlich sind für diese Armut
– z.B. durch die „Hartz Gesetze“. Unser Handeln unterscheidet sich von denen, die gute
Gesundheitsvorsorge gefährdet sehen und gleichzeitig die Krankenhäuser privatisieren und
Gesundheit und Therapie den Regeln der Profitmaximierung unterwerfen. Unser Handeln
unterscheidet sich von denen, die den Profit der wenigen über das Leben aller stellen.

5. In unserer Diskussion machen wir klar: Unsere Aktionen des zivilen Ungehorsams und
Widerstandes orientieren sich an den Möglichkeiten ALLER im Bündnis. Wir passen uns dem
Tempo und den Möglichkeiten der Schwächsten in den eigenen Reihen an. Ihre Melodie
bestimmt unseren Tanz. Wo Autos brennen und Steine fliegen, werden Menschen von
Protest ausgeschlossen. Das ist nicht unsere Form von Protest. Wo Menschen von
Vermummten in Uniform gejagt, gestoßen, verprügelt werden, schaffen wir gemeinsam
Schutzräume. Wir sind füreinander und miteinander da. Wir üben miteinander ein, uns vor
Übergriffen zu schützen. Notfalls setzen wir dabei auch unsere Körper ein und immer haben
wir das Recht, unsere körperliche Unversehrtheit und die unsere Genossinnen, Freundinnen,
Bündnispartnerinnen zu bewahren gegen Knüppel, Kampfgas und Fausthiebe. Für uns heißt
das auch, dass wir der Gewalt des Alltags den Schutz und den friedlichen Widerstand
kollektiver Strukturen entgegensetzen. Niemand muss Angst davor haben, von uns verletzt
oder bedroht zu werden. Wir aber haben erlebt, dass unser friedliches Handeln mit brutaler
Gewalt beantwortet wurde. Wenn die Verantwortlichen glauben, dass wir mit Angst auf ihre
Gewalt reagieren, haben sie Recht. Ja. Viele von uns hatten einfach nur noch Angst. Wir
werden uns aber nicht davon abhalten lassen, weiter zu machen. Die Angst schmiedet uns
zusammen. Wir bekämpfen die Angst und nicht diejenigen, die sie verursachen. Wir wissen,
dass die Gewalt, die wir erlebt haben, auch Ausdruck der Gewalt war, die viele Polizeikräfte
erlebt haben. Wer Beamte in 48 Stunden Schichten schickt, vorher Angst verbreitet vor den
„Chaoten“, nicht für Pausen, Versorgung, Schlaf sorgt, der wendet direkte Gewalt an
lohnabhängig Beschäftigte an. Es ist auch diese Gewalt, gegen die wir kämpfen.

6. Die Proteste vom Block G20 Bündnis waren erfolgreiche Proteste. Darum müssen sie
delegitimiert werden durch einen Diskurs, der wenig mit den Aktionen vom Freitagmorgen
und der Großdemonstration am Samstag zu tun haben. 87.000 Menschen gingen friedlich
auf die Straße, um gegen die mörderische Politik der G20 ein Zeichen der Solidarität mit den
Opfern dieser Politik in die Öffentlichkeit zu tragen. Dieses Zeichen der Solidarität soll durch
die Bilder brennender Autos vernebelt werden. Unsere Solidarität aber ist ungebrochen und
gilt den Menschen, die überall auf der Welt gegen die Zerstörung des Lebens durch den
Kapitalismus kämpfen. Im Krieg der Reichen gegen die Armen stehen wir auf der Seite der
Armen. Wir bleiben dabei. Wir kämpfen weiter für eine solidarische Welt. Wir kämpfen hier
im eigenen Land.

7. Der Gipfel, den Merkel, Trump und Erdogan geplant und durchgeführt haben, hat nichts mit
uns zu tun. Wir wollen ihre Form des freien Welthandels nicht, und wenn dort über Afrika
gesprochen wird, über, und nicht mit, dann ist das Ergebnis dort, dass Investitionen der
Privatwirtschaft angekurbelt werden sollen. Was nutzt das den Menschen, die dort leben?
Wir wollen einen Klimaschutz, der diesen Namen auch verdient. Nicht die Interessen von
Konzernen sind uns wichtig, sondern eine lebenswerte Umwelt für Alle! Diese Form von
kapitalistischer Kapitalverwaltung ist nicht alternativlos; wir wählen keine autoritären,
nationalistischen und rassistischen Krisenlösungen, sondern globale Solidarität, offene
Grenzen und Rebellion von unten!
Die Verfasserinnen sind Frauen, die als feministische Intervention unter dem Motto „Zone war
gestern – grenzenlos feministisch“ an den Aktionen zivilen Ungehorsams und an der
Großdemonstration teilgenommen haben.