„Demokratische Grundrechte wurden massiv eingeschränkt“

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Sylvia Gabelmann, Mitglied im Bundessprecher*innenrat der AKL, nimmt in ihrem Brief an die NRW-LINKE Stellung zu der Frage, ob sich DIE LINKE von der Gewalt bei den Protesten zum G20-Gipfel in Hamburg distanzieren sollte.

Liebe Genossinnen und Genossen,
Seit gestern bin ich aus Hamburg zurück und ich habe den vorgestrigen und gestrigen Tag gebraucht, um mich einigermaßen von den Ereignissen in Hamburg zu erholen.
Und ich bin sehr froh darüber, dass der Landesvorstand NRW in dieser Zeit nicht einfach mit in das Horn geblasen hat, „Gewaltexzesse“ zu verurteilen.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: ich halte das Anzünden von Kleinwagen und das Einschlagen von Scheiben nicht für ein geeignetes Mittel, um zu einer Gesellschaftsveränderung in unserem Sinne zu kommen.
Aber ich kritisiere diese Taktik politisch inhaltlich und lehne es massiv ab, eine zutiefst heuchlerische Debatte darüber mit denjenigen zu führen, die selbst für massive Gewalt verantwortlich sind – sei es durch Kriegseinsätze, Waffenlieferungen, soziale Grausamkeiten, Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken etc.
Strukturen der Partei Die Linke haben sich an Aktionen beteiligt, die einen Aktionskonsens hatten: „Viele von uns werden ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit durch körperschützende Maßnahmen verteidigen. Von uns wird dabei keine Eskalation ausgehen.“
Daran haben wir uns gehalten.
Ich habe in Hamburg eine Polizei erlebt, die an Brutalität alles übertroffen hat, was ich bisher erlebt habe – sei es Blockupy, Castor Schottern oder Ende Gelände.
Schon im Vorfeld wurde alles dafür getan, Proteste gegen den G20-Gipfel zu kriminalisieren und alle einzuschüchtern, die an Demonstrationen und Protesten teilnehmen wollten. Camps wurden verboten und dann, nach einem positiven Gerichtsentscheid angegriffen. AnwältInnen wurden ebenso wie Demo-Sanis in ihrer Arbeit behindert, JournalistInnen die Akkreditierung entzogen.
Demokratische Grundrechte wurden massiv eingeschränkt und die Verhältnismäßigkeit der Mittel in keiner Weise respektiert. Das würde besonders deutlich beim Vorgehen der Polizei gegenüber der Welcome to Hell Demonstration. Diese Demonstration würde ohne jegliche Auflage genehmigt, inklusive einer Abschlußkundgebung in der Nähe der Messehallen. Demzufolge wurde schon im Vorfeld damit gerechnet, dass die Demo nicht weit kommen würde. Der Angriff der Polizei auf die Demo, der damit begründet wurde, dass nicht sofort alle Vermummten ihre Tücher vom Gesicht nahmen (ein großer Teil kam sehr schnell dieser Aufforderung nach), hat an Härte und Brutalität alles in den Schatten gestellt, was befürchtet wurde. Und es wurde schon in dieser Situation faktisch in Kauf genommen, dass es Menschenleben kosten könnte. Die Bilder erinnerten nicht nur mich an die Bilder der Loveparade in Duisburg.
Ich könnte noch viel mehr zu unverhältnismäßigen und brutalen Einsätzen gegen friedliche DemonstrantInnen und Feiernde sagen, das würde aber diesen Rahmen sprengen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir auch fragen, wer konkret für die Ereignisse am Freitag Abend verantwortlich war. Spätestens seit Heiligendamm ist es bekannt, dass Provokateure von Polizei und Verfassungsschutz in linke Strukturen eingeschleust werden. Besonders in Hamburg sind einige solcher Fälle in der jüngeren Vergangenheit aufgedeckt worden.
Und es ist zu fragen, warum die mindestens 20.000 PolizistInnen mit u.a. 60 Wasserwerfern nicht in der Lage waren, ausgerechnet die Gewalt am Freitag Abend zu verhindern.
Für mich sieht es so aus, dass damit genau die Bilder erzeugt wurden, die es möglich gemacht haben, den martialischen Polizeieinsatz im Nachhinein zu rechtfertigen.
Und es hat dazu beigetragen, dass weder über gewaltfreie und fantasievolle Aktionen noch über die Inhalte des Gegengipfels oder die Ergebnisse des eigentlichen Gipfels berichtet wurde. Gleichzeitig wird der Ruf nach Überwachung auf europäischer Ebene und nach einer Verschärfung der Gesetze in Deutschland wieder lauter.
Im Grunde ist es das gleiche Muster wie bei Blockupy 2015.
Über all das müssen wir diskutieren – ein (mehr oder weniger) unreflektiertes „Distanzieren von Gewalt“ hilft da überhaupt nicht weiter.
Ich denke, der Landesvorstand wird eine Stellungnahme erarbeiten, die einerseits unser Recht auf gewaltfreien Widerstand betont und gleichzeitig eine Gewaltdiskussion führt, die unseren eigenen Massstäben gerecht wird und sich nicht unreflektiert dem Diskurs der Herrschenden anschließt.
Dafür braucht es aber einen Moment des Innehaltens und Nachdenkens – also ein bißchen Zeit.
Solidarische Grüße
Sylvia