Europa ist in der Krise

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Das europäische Integrationsprojekt ist in der Krise. Vortrag von Panagiotis Sotiris (Partei Laiki Enotita) auf der Euro-Konferenz der AKL Ende Januar 2017 in Düsseldorf

Wenn negative Einstellungen zur Europäischen Union sich mehren; wenn man sieht: Wann immer die europäischen Wähler zur Zukunft der Integration befragt wurden, war die Antwort negativ; wenn die weltweit fünftgrößte Volkswirtschaft für den Austritt aus der EU stimmt, obwohl Letztere als Inbegriff  wirtschaftlicher Einigung gilt – dann ist etwas faul im Herzen Europas. Und das ist die Europäische Union.

Und es ist unübersehbar, dass die Europäische Union alle Tests bislang nicht bestanden hat:
Konfrontiert mit der weltweiten Krise des Kapitalismus 2007–2008 hat die EU nicht nur keine Antwort gefunden, um die europäischen Volkswirtschaften vor den Krisenfolgen zu schützen, im Gegenteil: Die im europäischen Projekt tief verwurzelte Sparpolitik machte alles nur noch schlimmer. Die globale Krise war verbunden mit den verschärften Widersprüchen und der strukturellen Ungleichheit in der Eurozone. Das Ergebnis war ein wahres Rezept für die Zerrüttung, das im europäischen Süden zur extremen sozialen Krise führte und die Rezessionstendenzen in der Weltwirtschaft verstärkte.
Konfrontiert mit der Schuldenkrise in den meisten europäischen Ländern – Griechenland ist hier der Extremfall –, antwortete die EU darauf nicht nur mit wachsender Verschuldung: Sie nutzte die Schuldenkrise auch als Vorwand für das größte sozialtechnische Experiment der letzten Jahrzehnte, für den Versuch, in Jahrzehnten erkämpfte soziale Rechte abzubauen.
Konfrontiert mit einer offenkundigen Legitimationskrise – dadurch veranschaulicht, dass bei nahezu allen demokratischen Mitsprachemöglichkeiten der Bevölkerung eine Mehrheit gegen weitere Integration war – ist die Antwort der europäischen Eliten das Beharren auf einem autoritären „bürokratischen Cäsarismus“, wie Durand und Keucheyan es nennen. Das kam auf zynischste Weise in Jean-Claude Junckers infamem Ausspruch zum Ausdruck: „Gegen die europäischen Verträge gibt es keine demokratische Option.“
Konfrontiert mit wachsender amerikanischer Aggression und Versuchen, in einen „Neuen Kalten Krieg“ zu steuern, wie die aggressiven geopolitischen Züge des amerikanischen Imperialismus zeigen, taucht die EU immer tiefer in die Politik des „Euro-Atlantizismus“ ein, beispielsweise Sanktionen gegen Russland.
Konfrontiert mit der Flüchtlingskrise entschied sich die EU für die mörderischen Maßnahmen des „Bollwerks Europa“ und machte die Tragödie noch schlimmer – mit Tausenden toter Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer –, heute zudem noch mit dem EU-Türkei-Abkommen (und dem EU-Afghanistan-Abkommen), die zum heutigen Problem der Anhaltezentren in Griechenland und der Forderung nach Abschiebungen geführt haben.
Konfrontiert mit der neuen Lage in Europa und der Tatsache, dass große Teile der Arbeiterklasse in europäischen Ländern nicht europäischer Herkunft sind, ist die Reaktion der EU und der europäischen Regierungen die Rückkehr zum finstersten Gebaren des Kolonialismus und Rassismus, was zur derzeitigen Welle migranten- und flüchtlingsfeindlicher Maßnahmen führte, wie auch zum ideologischen Klima der Intoleranz, des Chauvinismus und der Islamophobie.
All dies bestätigt die tiefe Krise des europäischen Projekts. Doch sind wir uns gleichzeitig sehr wohl der Klassenkräfte bewusst, die wir weiterhin unterstützen. Zwar hat es die europäische Politik nicht geschafft, die Trends zu Austerität und Wirtschaftskrise umzukehren, doch sind die Bourgeoisien recht zufrieden mit der neoliberalen Disziplin, die den Gesellschaften mit Hilfe des Euro und den Regeln der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung auferlegt wurde. Selbst die Bourgeoisien der weniger entwickelten Länder nehmen diese Schwierigkeiten als Preis für die Vorteile niedrigerer Arbeitskosten, massenhafter Privatisierung, flexibler Arbeit und gewerkschaftsfeindlicher Gesetze in Kauf. Europäische Unternehmen, insbesondere im Zentrum Europas, ziehen Nutzen aus dem einheitlichen Markt, jedoch auch daraus, dass sie in jenen Ländern investieren können, die in „Sonderwirtschaftszonen“ umgewandelt werden, ohne Arbeitnehmerrechte und sozialen oder Umweltschutz, wobei einem zuerst Griechenland einfällt.
Nun, die griechischen Erfahrungen lehren uns Vieles. Vor zwei Jahren war Griechenland ein Symbol der Hoffnung. In der ganzen Welt blickte man auf Griechenland als potenziellem Experimentierfeld für eine fundamentale Alternative, für eine Möglichkeit, den Teufelskreis aus Austerität, Rezession und Arbeitslosigkeit zu durchbrechen, für eine neue Politik, die den Weg zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel eröffnen könnte. Heute ist Griechenland das Symbol der Niederlage und der Kapitulation der Linken. Das Symbol einer Situation, in der eine Regierung der radikalen Linken über zwei Jahre die Erosion der Demokratie und Souveränität hinnahm, extreme neoliberale Maßnahmen durchsetzte, die Lohnkürzungen ebenso wie die Privatisierungen fortführte, die Ausgaben für Gesundheit kürzte, die Renten senkte und ein neoliberales Rentensystem einführte, sich auf die weitere Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die weitere Beschneidung gewerkschaftlicher Tätigkeit einstellte und die reaktionären flüchtlings- und migrantenfeindlichen Maßnahmen der Festung Europa und des EU-Türkei-Abkommens durchführte.
Aber wie ist es dazu gekommen? Die Antwort: Weil die griechische Regierung kapitulierte und ein weiteres, noch härteres Memorandum akzeptierte. Warum gab sie auf, hatte doch das griechische Volk in einem mutigen Akt der Gehorsamsverweigerung beim Referendum von 2015 klar mit NEIN gestimmt? Weil, wie sie beteuerte, die Alternative zur Kapitulation der Austritt aus der Eurozone gewesen wäre. Und weil dies eine Katastrophe wäre. Das ist die Position der griechischen Regierung, die Position von SYRIZA.
Jahrelang hat man uns vorgebetet, den Euro aufzugeben wäre eine Katastrophe; dass die Wirtschaft zusammenbrechen würde; dass es Massenarbeitslosigkeit, dass es Armut gäbe und dass wir unsere Wohnungen nicht mehr richtig heizen können würden. Nun, eben das ist mit dem Verbleib in der Eurozone passiert. Der Euro ist keine Währung. Er ist die Herrschaft der Austerität und des brutalen Drucks, sich neoliberaler Sparpolitik zu unterwerfen. Genau das war es von Anfang an. Der Euro ist Ausdruck der Tatsache, dass die Europäische Integration seit den 1980er Jahren ein neoliberales Projekt ist, ein Projekt zur Förderung der Interessen von Großkapital und Multis. Der Integrationsprozess ist ein neoliberaler, autoritärer und undemokratischer Prozess. Das spricht klar aus den Verträgen, aus den Weiß- und Grünbüchern, aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs, aus den Beschlüssen und Verordnungen der Kommission. Und der Euro ist der Kern nicht nur der griechischen, sondern auch der europäischen Krise.
Deshalb ist es mehr als offensichtlich, dass die einzig mögliche progressive, radikale, sozialistische Antwort darauf nur eine Strategie des Austritts aus Euro und EU sein kann. Vor einigen Jahren noch hat man sich vielleicht die Illusionen derer irgendwie erklären können, die glaubten, die EU von Innen her verändern oder Pläne für eine „andere“ EU mit einem „anderen“ Euro und einer „anderen“ EZB realisieren zu können. Nach der Krise und insbesondere nach den griechischen Erfahrungen wissen wir alle: Das ist unmöglich. Eurozone und EU lassen sich nicht reformieren. Sie waren nie dazu gedacht, reformiert zu werden, sie waren von Anfang an ein Versuch, die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse und die Kapitalakkumulation zu sichern – durch die Einschränkung einzelstaatlicher Souveränität und den im Euro angelegten Neoliberalismus. Die einzig linke Strategie ist daher der Austritt. Linkes Europäertum war und ist die „Krönung“ der Niederlage der Linken in Europa und sichtbarstes Ergebnis der bürgerlichen ideologischen und politischen Hegemonie innerhalb der Linken.
Da mag mancher Linke immer noch sagen: „Ja, und was ist mit der extremen Rechten?“ Ganz einfach ausgedrückt: Der Aufstieg der extremen Rechten mit ihrem Ersatz-Euroskeptizismus ist Ergebnis strategischer Defizite der Linken und ihrer Unfähigkeit zur führenden politischen Kraft im Kampf gegen die EU, was politischen und ideologischen Raum lässt – den reaktionären, fremdenfeindlichen und zutiefst systemischen Kräften der extremen Rechten, politischen Kräften, die in Wirklichkeit die EU unterstützen. Es war die Linke, die zuließ, dass eine historisch ihr zugehörige Position, nämlich die Verweigerung der Europäischen Integration, von der extremen Rechten gekapert wurde. Und die Antwort darauf, wohin linkes Europäertum führt, ist ganz einfach: Tsipras. Linkes Europäertum läuft auf die Kapitulation vor der EU, vor ihrer Austeritätspolitik und dem kapitalistischen Umbau hinaus.
In diesem Sinne muss man sagen: Ja, Souveränität ist wichtig, und eingeschränkte Souveränität und die Übertragung von Machtbefugnissen der Nationalstaaten auf transnationale Organisationen wie die EU ist Teil des kapitalistischen und neoliberalen Anschlags auf die Gesellschaften. Wenn wir über Souveränität reden, dann reden wir über Demokratie. Deshalb müssen wir auf der notwendigen Wiedererlangung der Volkssouveränität als strategischem Ziel der Linken beharren. Bei Volkssouveränität geht es weder einfach nur um eine institutionelle Ordnung, noch läuft es auf einen naiven Glauben an bourgeoisen Parlamentarismus hinaus. Es geht um Demokratie als Möglichkeit der Abhängigen, ihren gemeinsamen Willen geltend zu machen und den Gang der Geschichte in einer bestimmten historischen Situation zu ändern. In diesem Sinne hat Volkssouveränität mit Macht zu tun und dem gesellschaftlichen Block, der sie ausübt.
Die Europäische Integration ist keine perverse Form von Kosmopolitismus oder Internationalismus; sie ist der eigentliche Nationalismus des Kapitals. Der Euro ist der Nationalismus des Kapitals. Und die Wiedererlangung der geldpolitischen Souveränität stellt eine Form des populären Internationalismus dar.
Volkssouveränität hat nichts mit Nationalismus oder Sozialchauvinismus zu tun. Im Gegenteil: Wir müssen die Vorstellung von Volk als Bündnis und Einheit und des gemeinsamen Kampfes der Abhängigen, ungeachtet ethnischer Zugehörigkeit oder Religion, neu denken. Diese begriffliche Neufassung von Volk kann real viel umfassender sein und ist unsere Antwort auf die reaktionäre extreme Rechte, die auf imaginäre „nationale Identitäten“ und die Mythen von „gemeinsamer Herkunft“ und „Blut“ setzt. Unsere Auffassung von Volk als kollektivem Subjekt im Kampf, als Bündnis im Kampf, als Einheit von Angehörigen bestimmter Klassen und Vertretern politischer Strategien kann neue Formen der Zugehörigkeit schaffen, die mit Nationalismus, Kolonialismus und Rassismus nichts zu tun haben, aber den Gesellschaften eine neue und emanzipatorische Form von Einheit und „Zusammenhalt“ vermitteln können.
Für uns ist die Wiedererlangung der Souveränität, beginnend mit der geldpolitischen Souveränität, nur der Anfang. Sie ist Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Sie bietet die Möglichkeit, einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen, in eine sozialistische Richtung. Deshalb muss für uns der Austritt aus der Eurozone und die sofortige Einstellung der Schuldenzahlungen mit einem radikalen Transitionsprogramm der Verstaatlichungen, der Einführung von Formen der Arbeiterselbstverwaltung, mit der Umverteilung von Reichtum und neuen Formen der Demokratie von unten verbunden werden.
Der Austritt aus dem Euro und möglicherweise der EU sollte nicht bloß als Schritt hin zu günstigeren makroökonomischen Bedingungen betrachtet werden; die allgegenwärtigen Auswirkungen der europäischen Integration und ihre verheerenden Folgen für die Produktionsbasis der Gesellschaft machen eine sozialistische Orientierung zur Notwendigkeit, nicht zum Luxus – anders also als beim herkömmlichen Reformismus und Ökonomismus der Linken. In diesem Sinne ist es auch unabdingbar, Sozialismus neu zu denken – über die Sozialdemokratie einerseits und den bürokratischen Staatssozialismus andererseits hinaus, also als einen Transitionsprozess neu zu denken, der voller Konflikte und Kämpfe ist, um die bereits entstehenden „kommunistischen Spurenelemente“ weiter zu verbreiten, die sich in kollektiven Erwartungen und Forderungen nach einer von der Herrschaft des Kapitals befreiten Organisation der Gesellschaft zeigen.
In diesem Sinne sprechen wir also, wenn wir von ökonomischen Alternativen zum neoliberalen System der Eurozone reden, nicht nur von der Wiedererlangung der geldpolitischen Souveränität als Mittel Keynesianischer Programme gesteigerter öffentlicher Ausgaben, wie notwendig solche politischen Initiativen auch sein mögen! Wir sprechen von der Transformation der Produktion. Wir sprechen von Verstaatlichungen und der zentralen Bedeutung des öffentlichen Sektors, von der Ausbreitung der Selbstverwaltung, von der Notwendigkeit, alternative nicht-kommerzielle Distributionsformen zu entwickeln, und wir sprechen von neuen Formen partizipatorischer demokratischer Planung. Wir sprechen von einem alternativen Produktionsparadigma, gegründet auf einem ökologischen Ansatz und der Priorität für kollektive Bedürfnisse statt für privaten Konsum.
Dazu gehört nicht einfach ein „Paket staatlicher Maßnahmen“, sondern eine Bewegung, ein Prozess kollektiven Handelns, der Partizipation und des Experimentierens mit neuen Formen der Organisation und Transformation von Produktion, basierend auf der Initiative, dem Wissen und der Erfindungskraft der Kämpfenden.
In gesellschaftlichen Kämpfen geht es nicht einfach um Forderungen. Es sind auch Lernorte. Die Menschen lernen während Streiks, sie lernen die Funktionsweisen der Ökonomie und des Staates, und sie lernen ihren Wirtschaftssektor kennen. Bewegungen sind Orte der Wissensproduktion. Neue Vorstellungen bilden sich heraus, neue Dialoge entwickeln sich, neue kollektive Praktiken werden diskutiert und sogar ausprobiert.
Und wenn wir von gesellschaftlicher Veränderung sprechen – wem vertrauen wir da mehr? Den gut bezahlten Managern, die weitgehend verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich für die derzeitige Krise sind, oder den Kämpfenden, den Menschen, die beispielsweise geschafft haben, das öffentliche Gesundheitswesen in Gang zu halten, die den Schulbetrieb aufrechterhalten haben, die Versuche mit Selbstverwaltung organisiert haben? Eben dies sind die Menschen, von denen wir wirklich etwas über Alternativen erfahren können, eben das ist das Wissen, das wir für eine neue radikale Alternative nutzen müssen.
Vor uns liegt zudem ein tagtäglicher Kampf, nicht nur gegen die Kräfte des Kapitals und ihre politischen Vertreter (sowie ihre Vertreter im Staatsapparat), sondern auch gegen die Logik der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse und die Logik des Marktes.
Deshalb dürfen wir uns dabei keinen Prozess vorstellen, in dem eine Links-Regierung einfach nur neue Gesetze einbringt. Denn ohne eine starke Bewegung von unten, ohne Arbeiterinitiativen und Formen der Arbeiterselbstverwaltung, ohne die Mobilisierung der Menschen ist jede Regierung ohne Macht. Zudem ist es ohne tiefgreifende institutionelle Veränderungen, die neue Formen demokratischer Teilhabe, Kontrolle und Planung hervorbringen, nicht möglich, ein Transitionsprogramm in Angriff zu nehmen, das zu einer umfassenden Konfrontation mit den Kräften des Kapitals führen wird, zuhause und international. Deshalb wird ein „Gründungsprozess“ notwendig sein, um dies zu ermöglichen. Das wäre auch die Antwort auf die gegenwärtige Krise der parlamentarischen Demokratie.
Trotz der tragischen Lage der europäischen Linken brauchen wir nicht zu verzagen. Das neue Zusammentreffen aller Umstände der Krise der Europäischen Union schafft auch neue Möglichkeiten für eine Neugründung der Linken auf Basis der zentralen Bedeutung des Bruches mit dem „europäischen Weg“. Diese Gelegenheit müssen wir ergreifen und auf dieses Ziel hinarbeiten, beginnend mit der Koordinierung aller radikal linken Kräfte in Europa, aller progressiven Kräfte, die gegen die neoliberale EU und die Eurozone sind.
Was die Laiki Enotita (Popular Unity [Volkseinheit]) angeht, starten wir gerade eine große Kampagne für den Austritt aus der Eurozone und die Einführung einer nationalen Währung als Grundlage einer radikalen Alternative, eines progressiven, sozialistischen, demokratischen, internationalistischen Programms, das nun einmal der einzige Weg ist, Vertrauen in gesellschaftliche Veränderungen in Griechenland wiederzugewinnen und das Land wieder zur Keimzelle der Hoffnung zu machen.

Panagiotis Sotiris ist Mitglied der griechischen Linkspartei Laiki Enotita (Volkseinheit).