Welche Flüchtlingskrise?

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Das Recht, nach Europa zu kommen. Von Rainer Beuthel

Seit rund einem Jahr wird der öffentliche politische Diskurs von der Debatte um die sogenannte Flüchtlingskrise beherrscht, von der Frage, ob „wir das schaffen“, ob „Obergrenzen“ verfügt werden sollen, ob die demokratischen politischen Parteien mit fremdenfeindlichen Wutbürgern reden sollen, ob deren Protest „legitim“ und bloßer Ausdruck von berechtigten „Sorgen“ oder im Kern rassistisch, also politisch korrekt abzuwehren sei. 

Die Erfolge der faschistoiden AfD bei den jüngsten Landtagswahlen, den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, aber auch bei den niedersächsischen Kommunalwahlen, sind Ausdruck einer deutlichen Verschiebung der politischen Stimmung nach Rechts. Parallel steigt die Zahl der rassistischen, ausländerfeindlichen Gewalttaten dramatisch an. Mittelfristig droht eine rechte politische Hegemonie, die sich in einzelnen Regionen bereits verfestigt hat.
Die Reaktion der etablierten Parteien darauf, zu denen auch DIE LINKE gezählt werden darf, ist mehr oder weniger hilflos, oszilliert zwischen Anpassung an die veränderte Stimmung und Widerstand. Verbal wird überall verkündet, es müssten „Fluchtursachen bekämpft“ werden. Deren historische Entstehungsbedingungen werden aber kaum thematisiert und wahrgenommen. Auch DIE LINKE scheint sich nicht zu trauen, der Sache auf den Grund zu gehen: Die Ursachen für die Flüchtlingsströme sind nicht allein in gegenwärtigen kriegerischen Konflikten, in Waffenlieferungen an diese oder jene Kriegspartei, in Hunger und Elend infolge zunehmender Umweltzerstörung zu suchen. Sie liegen im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Es käme darauf an, den dahinterstehenden Grundkonflikt in allen seinen Ausprägungen aufzuzeigen: die Unterwerfung der gesamten Erde unter die kapitalistische Produktionsweise sowie die Auswirkungen der kapitalistischen Krisen auf die verschiedenen Weltregionen, die Verstrickung Deutschlands in imperialistische Herrschaft über den globalen Süden, also: wie „wir“ von einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung profitieren. „Wir“ – das sind in diesem Fall nicht nur die Besitzer_innen von Produktionsmitteln und die politisch Herrschenden, sondern in Abstufung die gesamte Bevölkerung dieses Landes, inclusive große Teile der Arbeiterklasse. Das hört man hierzulande nicht gern.
Die Aufteilung der Erde begann parallel zur Entstehung und Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise in großem Maß im 16. Jahrhundert. Die europäischen Kolonialmächte Portugal, Spanien, England und Holland „entdeckten“ die Welt und teilten sie untereinander auf. Am „atlantischen Dreieckshandel“, durch den Millionen von Afrikanern nach Amerika verschleppt wurden, beteiligte sich beispielsweise auch Dänemark. Brandenburg-Preußen unterhielt ab 1683 für ca. 30 Jahre einen Stützpunkt an der afrikanischen Westküste. Das noch feudalistische Russland dehnte sein Imperium immer mehr nach Osten aus. Ende des 19. Jahrhunderts „erwarb“ das Deutsche Reich Kolonien in Afrika und Ozeanien. Belgien unterwarf sich den Kongo. Im 20. Jahrhundert traten Italien, die USA und Japan in den Kreis der Kolonialmächte ein. Ein Großteil der Erde stand nun unter Herrschaft der kapitalistischen Metropolen mit dem Zweck, Zugriff auf billige Landwirtschaftsprodukte und industrielle Rohstoffe zu erlangen sowie die Absatzmärkte für alle Art von Waren immer mehr zu erweitern. Diese Herrschaft wurde gegen die einheimische Bevölkerung in brutalen Kolonialkriegen abgesichert, so etwa im Maji-Maji-Krieg in der Kolonie Deutsch-Ostafrika in den Jahren 1907 bis 1907 (heute: Tansania, Ruanda und Burundi), dem 250000 bis 300000 Afrikaner_innen zum Opfer fielen. Auch dies hört man hierzulande nicht gern.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs teilten die imperialistischen Mächte die Welt neu auf: Deutschland verlor seine Kolonien, sie wurden als Mandatsgebiete des Völkerbundes unter die Siegermächte verteilt. Das Osmanische Reich, Deutschlands Verbündeter, löste sich auf. Seine Territorien im Nahen Osten kamen unter britischen und französischen Einfluss. Auch hier wurden willkürliche Grenzen gezogen, die sich allein an den Interessen der Kolonialmächte orientierten. Das Versprechen Großbritannien (Balfour-Deklaration von 1917), nach Kriegsende die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu ermöglichen, wurde gebrochen. Auch die im Friedensvertrag der Entente mit dem Osmanischen Reich vorgesehene Gründung eines kurdischen Staates verwirklichte sich nicht. Beides wirkt bis in die Gegenwart nach und trägt zur aktuellen kriegerischen Dauerkrise im Mittleren und Nahen Osten bei.
Der antikolonialistische Befreiungskampf in seiner rein nationalistischen, aber auch sozialistischen Ausprägung hat das alte Kolonialsystem nach dem Zweiten Weltkrieg völlig verändert. Fast alle ehemaligen Kolonien wurden staatlich selbständig, bildeten untereinander Bündnisse und verbanden sich als „Dritte Welt“ teilweise mit der Sowjetunion und den in Europa neu entstandenen (pseudo-)sozialistischen Staaten. Mit dem Ende des autoritären sowjetischen Modells, das sich im Stalinismus auf schaurige Weise ad absurdum geführt hatte, endete auch eine große Hoffnung: daß sich aus einer Transformation dieses Modells zu einem demokratischen Sozialismus eine Perspektive der baldigen weltweiten Befreiung vom Kapitalismus entwickeln könnte. In der nach 1990 entstandenen „Neuen Weltordnung“ hat der sich weiter globalisierende Kapitalismus eine bisher nie dagewesene Hegemonie errungen – bis nach Rußland und ins fälschlicherweise als „kommunistisch“ deklarierte China. Die neokoloniale Beherrschung der Erde geschieht durch ungerechte Handelsverträge, Absicherung korrupter Regimes in den ehemals unter direkter Herrschaft der Metropolen stehenden Kolonien, durch Erpressung durch Weltbank und WTO, durch kriegerische Interventionen mit der verlogenen Begründung einer „Friedenssicherung“. Ganze Regionen fallen aus der „internationalen Gemeinschaft“ heraus und werden als „failing states“ begriffen. Die Menschen, die dort leben, müssen sich dem Diktat der Herrscher dieser Welt anpassen oder sind zum Untergang verurteilt. Die „Verdammten dieser Erde“, wie sie Frantz Fanon in seinem 1961 erschienenen gleichnamigen Werk beschrieb, scheinen keinen Grund mehr zur Hoffnung auf ein besseres Leben zu haben.
Dieses ist der Nährboden für die Entstehung religiös motivierter terroristischer Banden wie die Taliban, Hamas, Islamischer Staat – und wie sie alle heißen. Das Gefühl jahrhundertelang erlittener Ausbeutung und Fremdherrschaft verwandelt sich in einer Situation fehlender Hoffnung auf eine sozial gerechte Gesellschaft in archaische Regression auf einen Gott, der jede Gewalttat gegen Nichtgläubige sanktioniert. Daß sich vor allem, aber nicht nur die USA bei passender Gelegenheit, also wenn es ihren polit-ökonomischen Interessen dient, dieser Gruppierungen bedienen, ist nur eine weitere Variante des schon im klassischen Kolonialismus bewährten Prinzips „Teile und herrsche“. Wer heute noch als Terrorist gilt, mutiert morgen zum Freiheitskämpfer und umgekehrt. Als Freiheit hat aber in letzter Instanz die unbeschränkte kapitalistische Herrschaft zu gelten.
Es lag und liegt in der Logik des Kapitalismus, daß schrankenloser Waren- und Kapitalverkehr im Interesse der Metropolen, deren Bedingungen mit Gewalt abgesichert werden, nicht allein kriegsbedingte Fluchtbewegungen sondern auch weltweite Arbeitsmigration auslösen. Menschen, die in ihren Heimatländern sowohl als landwirtschaftliche oder kleinbürgerliche Kleinproduzenten, als auch als Lohnabhängige nicht mehr von ihrer Hände Arbeit leben können, müssen versuchen, ihr tägliches Auskommen woanders zu erwerben. Logischerweise versuchen sie dorthin zu gelangen, wo sowohl die Ursache für ihre Misere, als auch gesellschaftlicher Reichtum in großem Ausmaß vorhanden ist, ein Reichtum, zu dessen Entstehung sie und ihre Vorfahren seit Jahrhunderten beigetragen haben – als Opfer.
Diesen Zusammenhang deutlich zu thematisieren, müßte Aufgabe der LINKEN sein. DIE LINKE müsste klarstellen, dass Menschen, deren heimische Wirtschaft durch den europäischen Neokolonialismus zerstört wurde, ein moralisch begründetes Recht haben, nach Europa zu kommen.