Die EU und die Grenzen linker Veränderung

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Wir können nicht zur politischen Tagesordnung zurückkehren: Eine Antwort auf das Institut für solidarische Moderne von Christian Leye und Ali Al-Dailami

Wenn die politische Linke nach der unverhohlenen Erpressung von SYRIZA und dem kaum verdeckten Versuch eines ökonomischen Staatsstreiches nicht zur politischen Tagesordnung zurückkehren will, gilt es für die theoretischen und strategischen Überlegungen Konsequenzen zu ziehen.

Tut sie das nicht, bereitet sie ihre nächste Niederlage vor. Exemplarisch dafür steht die Erklärung des Instituts für solidarische Moderne (ISM) »Europe will never be the same again«. Vorweg: In einigen Punkten ist dem Institut für solidarische Moderne zuzustimmen. Ja, der Umgang der EU-Eliten mit Griechenland in der Woche seit dem 27. Juni war ein Staatsstreich. Ja, dieser wurde durchgeführt, um jede Alternative zum aktuellen europäischen Herrschaftsmodell exemplarisch zu beseitigen.

Das Konzern- und Finanzkapital und seine politischen Vertreter in der Eurozone haben ihren Standpunkt im Umgang mit dem griechischen Widerstand gegen die Austerität unmissverständlich klar gemacht: Das ist ihre EU, und das sind ihre Regeln. Jeder Versuch, daran etwas durch sozialdemokratische Verschiebungen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit zu verändern, wird mit eiserner Hand niedergeschlagen. Im Zweifel sind die EU-Eliten bereit, einem ganzen Land den Geldhahn zuzudrehen und die Welt zusehen zu lassen, wie die Versorgung der Bevölkerung zusammenbricht. Für den Spielraum, der sich für linke Reformansätze in der EU bietet, ist in den letzten Wochen eine wichtige Grenze zu Tage getreten: Es geht jenseits von demokratischen Sonntagsreden einzig und alleine um die kompromisslose Durchsetzung der Interessen des Großkapitals und der kleinen Elite, in dessen Besitz es sich befindet.

Yanis Varoufakis beschrieb in seinem Interview mit dem »New Statesmen«, dass in den Verhandlungen der Eurogruppe seine ökonomischen Argumente zu keinerlei Reaktionen, nicht einmal zu einer Ablehnung geführt haben. Offensichtlich ging es seinen Gesprächspartnern nicht um die besser durchdachten Argumente auf der Suche nach vernünftigen Lösungen. Das Ziel der EU-Eliten war es stattdessen, das neoliberale Herrschaftssystem vor politischen Alternativen zu schützen. Diese kompromisslose Interessenpolitik der Herrschenden und die rücksichtslose Härte, mit der sie durchgesetzt wird, gilt es zunächst in ihrer ganzen Radikalität zu begreifen, wenn das Institut für solidarische Moderne proklamiert »die Schwelle ist überschritten«.

Der Anspruch des Instituts für solidarische Moderne, die »Wiederkehr des Politischen gegen den Amoklauf der Ökonomie« zu erkämpfen, ist daher keine adäquate Konsequenz aus dem offenen Feldzug des Kapitals gegen einen demokratischen Aufbruch. Die Forderung nach der »Wiederkehr des Politischen« bedeutet ja nichts anderes, als dass eben jene Phase wiederkehren möge, in der zumindest in Deutschland der Sozialstaat ausgebaut und ein Klassenkompromiss eingerichtet wurde.

Nur: Auf einen Kompromiss zu setzen, nachdem die Gegenseite gerade eine bedingungslose Kapitulation erzwungen hat, bietet überhaupt keine Perspektive für linke Kräfte. Dass die Herrschenden überhaupt nicht vorhaben, auch nur über punktuelle Abschwächungen ihres Geschäftsmodells zu verhandeln, sollte spätestens nach dem 12. Juni 2015 für linke Akteure, welche die europäische Ebene ernst nehmen, der Ausgangspunkt für innerlinke Debatten sein. Kurz: Wenn die deutsche Linke nach den Entwicklungen der letzten Wochen ihre Analyse nicht der Radikalität der europäischen Zustände anpasst, verschließt sie die Augen vor den Aufgaben, die vor ihr liegen.

Laut dem Institut für solidarische Moderne »(..) brauchen wir jetzt einen neuen Raum, um von vorne anzufangen. Einen Gegenraum.« Das ist nicht falsch, aber es ist schwammig und unnötig abstrakt. Die Frage lautet: Ist innerhalb der EU ein Gegenraum möglich und überlebensfähig?

Der jahrelange Widerstand in Griechenland gegen die Austeritätspolitik, die Streiks und Generalstreiks, die Demonstrationen, die Platzbesetzungen, die (Selbst-)Organisierung und Politisierung der Bevölkerung, welche zu dem Erdrutschsieg von SYRIZA und schließlich zu dem mutigen »Oxi!« geführt haben, fand seine vorläufige Grenze in den Institutionen der EU. Auf die Sichtbarwerdung dieser Grenze für linke Politik in der EU geht das Institut für solidarische Moderne mit keinem Wort ein.

Der bestehende institutionelle Rahmen der EU setzt dabei nicht nur neoliberale Programme um, er schützt sie auch vor wechselnden demokratischen Mehrheiten. Der Spielraum für linke Wirtschafts- und Budgetpolitik ist institutionell begrenzt. Keynesianische Wirtschaftspolitik wird durch den Fiskalpakt im Konfliktfall von der Zustimmung der EU-Kommission abhängig gemacht. Auch gilt: Wollte eine gewählte Regierung eine der EU-Liberalisierungsrichtlinien rückgängig machen, wäre dies ein Bruch mit bestehenden EU-Recht und nur mit der einstimmigen Genehmigung aller EU-Mitgliedsstaaten möglich. Diese Konstellation aber ist extrem unwahrscheinlich. Gerade Regierungen, die ihre Bevölkerungen durch neoliberale Maßnahmen enteignet haben, bekämpfen soziale Alternativen besonders vehement, wie u.a. die Positionierungen der spanischen oder der baltischen Regierungen gegenüber SYRIZA gezeigt haben. Auch in der gemeinsamen Währung sind die Weichen für neoliberale Politik in der EU gestellt, da auf die notwendigen politischen Ausgleichsmechanismen verzichtet wurde. Dies wären unter anderem eine an die Produktivität angepasste Lohnpolitik, eine EU-weite Steuerpolitik sowie ein Angleichen der Sozialstandards nach oben. Das Fehlen von solchen Ausgleichsmechanismen führt dazu, dass Länder mit einem strukturellen Leistungsbilanzdefizit wie Griechenland Schulden aufbauen, die innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen immer weiter wachsen. Die einzige Möglichkeit, aus diesem Kreislauf auszubrechen ist eine interne Abwertung – also sinkende Löhne und Sozialabbau. Diese »Konstruktionsfehler« des Euro sind genau genommen keine Fehler, sondern politisch gewollt: sie entsprachen und entsprechen den Interessen des Kapitals im allgemeinen und des (deutschen) Export- und Finanzkapitals im Besonderen

Wie verbissen sich die EU gegen politische Alternativen wehrt, mussten wir in den letzten Wochen erleben. In der Situation, in der sich SYRIZA befand, wurde die offene Erpressung insbesondere durch die Europäische Zentralbank ausgeübt. Die EZB, offiziell eine politisch neutrale Instanz, hat Griechenland schrittweise den Zugang zu Euros entzogen und in der Woche vor dem Referendum den Hahn ganz zugedreht. Der versuchte Staatsstreich wäre ohne die politisch ganz und gar nicht unabhängige EZB in dieser Form kaum möglich gewesen. Für die Zukunft existiert nun bei einem ähnlich gelagerten Konflikt in der EU ein Fahrplan, um Opposition zum neoliberalen Geschäftsmodell zu unterdrücken.

Eine klare Analyse dieser realen Verhältnisse in der EU ist von zentraler Bedeutung für die politische Auseinandersetzung, zumal wenn die eigene Hoffnung auf einer Mobilisierung der Gesellschaftsmehrheit gegen den Neoliberalismus beruht. Dies ist offenbar auch der Ansatz des Instituts für Solidarische Moderne; in ihrer Stellungnahme heißt es dazu: »Wichtig ist, dass die Versuche (…) letzten Endes zusammenfließen, sich zu einem vielstimmigen, doch gemeinsamen Versuch fügen.« Dass die griechische Bevölkerung trotz ökonomischer Pistole an der Schläfe und einer groß angelegten Einschüchterungskampagne mutig »Oxi« sagte, wäre ohne eine politisierte Gesellschaft kaum möglich gewesen. Die Voraussetzung für eine politisierte Gesellschaft aber ist, von links mit klaren Positionen in die öffentliche Diskussion zu gehen und sich dann der politischen Auseinandersetzung zu stellen.

Im Sommer 2015 wird im linken Spektrum wohl kaum noch jemand behaupten, die EU sei nicht neoliberal und undemokratisch. Um eines klar zu stellen: Es soll keine dreckige Wäsche gewaschen werden. Aber es soll und muss nach den Ereignissen der letzten Wochen Klarheit in unseren Positionen gewonnen werden. In der englischen Linken wird nach dem versuchten Staatsstreich in Griechenland ein neues Verhältnis zu den Institutionen der EU gesucht; konkret wird diskutiert, ob ein von links betriebener EU-Austritt die strategischen Optionen für linke Politik in Großbritannien vergrößern würde. Der US-amerikanische Ökonom James K. Galbraith, ein moderater Keynesianer, geht ganz selbstverständlich davon aus, dass sich nun linke Hoffnungen auf Reformen in der EU zerschlagen haben und sich die europäische Linke gegen den Euro wenden wird. Die französische Parti de Gauche diskutiert derzeit ebenfalls einen potentiellen Euro- und EU Austritt als Plan B, um nicht in die gleiche Falle wie SYRIZA zu geraten.

Gerade die politische Linke in Deutschland darf vor diesen Fragen nicht im Alleingang die Augen verschließen oder die Komplexität dieser Fragen auf Formeln wie »pro- und antieuropäisch« reduzieren, zumal in den letzten Wochen wieder einmal überdeutlich wurde, wie sehr es sich hierbei um politische Kampfbegriffe der Herrschenden handelt. Eine Linke, deren Positionen hinter der offensichtlichen Radikalität der gesellschaftlichen Zustände hinterherhinkt, bremst politischen Wandel anstatt ihn zu beschleunigen. Für die linken Kräfte in Parlamenten der EU-Mitgliedsländer darf es in Zukunft nicht die einzige Option sein, außerparlamentarische Bewegungen auf die institutionellen Grenzen des Widerstandes in der EU hinzuweisen.

Linke Kräfte stehen nach der erfolgreichen Erpressung SYRIZA vor der Situation, dass es weder eine erfolgversprechende Strategie für linke Politik innerhalb der EU gibt, noch eine gemeinsame Perspektive für einen Plan B existiert. Wenn linke Bewegungen in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU erfolgreich Widerstand leisten, wenn linke Kräfte an die Regierungen kommen und wenn diese sich aus dem neoliberalen Korsett der EU befreien würden, weil es die einzige Alternative für soziale Politik ist – wohin würden sie sich wenden? Zurück zu einem nationalstaatlich organisierten Kapitalismus? Welche gesellschaftliche Perspektive wollen linke Kräfte nach der Erpressung SYRIZAs entwickeln, um in die politische Auseinandersetzung zu gehen? Sollen »abtrünnige Staaten« auf eigene Faust versuchen, soziale und demokratische Alternativen umzusetzen? Oder wäre ein sozialer und demokratischer Zusammenschluss von links regierten Staaten denkbar, der eine Alternative zur neoliberalen EU bieten könnte? Was wäre nötig damit diese solidarische Perspektive ökonomisch und politisch Stabilität entwickelt? Auch stellt sich die Frage der Reichweite der Forderungen neu.

Die Bedingungen, unter denen ein Bruch mit dem Euro in den Bereich des Möglichen rückt, wurden in Griechenland in der Woche des Referendums zum ersten Mal sichtbar. Mit dem politischen Kraftaufwand und der gesellschaftlichen Mobilisierung die nötig wären, einen Bruch mit dem Euro und der EU demokratisch zu legitimieren, könnten auch weitergehende Forderungen erhoben werden.

Nach dem Sommer 2015 tauchen diese Fragen am Horizont der innerlinken Diskussion auf. Ohne fertige Antworten liefern zu wollen: Den offenen Fragen auszuweichen, würde tatsächlich in die Alternativlosigkeit neoliberaler Zumutungen führen.

Christian Leye ist stellvertretender Landessprecher DIE LINKE. Nordrhein-Westfalen und Sprecher für Wirtschaftspolitik. Ali Al-Dailami ist Mitglied im Parteivorstand DIE LINKE. und Vorsitzender des Kreisverbandes Gießen