Konforme Transformer

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Die reformkapitalistische Programmatik dominiert die Partei Die Linke stärker denn je. Von Ekkehard Lieberam

Der Parteitag der Linken in Bielefeld hat aus meiner Sicht bestätigt: In dieser Partei gibt es quasi zwei Parteien unter einem Dach, die der »Regierungslinken« und die der »antikapitalistischen Linken«. Damit verbunden, gibt es in ihr ebenfalls zwei konträre Transformationskonzepte mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Konsequenzen für ihre Politik. Dabei dominierte auf dem Parteitag eindeutig das Transformationskonzept des »Reformlagers«.

Das 1986 erschienene »Lexikon des Sozialismus« verweist darauf, dass sich »zwei alternative Transformationsparadigmen unterscheiden (lassen), nämlich eine revolutionäre und andererseits eine reformistische oder gradualistische Transformationsstrategie.« Robert Steigerwald spricht im gleichen Sinne von »zwei einander widersprechenden Konzeptionen«.¹ Ich schließe mich dieser Sicht an.

Über Grundsätze und Eckpunkte der revolutionären, auf substantielle Veränderungen der Macht- und Eigentumsverhältnisse orientierenden Variante der Transformationsstrategie sollte intensiv diskutiert werden. Die reformistische (genauer: die reformkapitalistische Variante) tarnt sich und flankiert die Umwandlung der Linken in eine Partei des herrschenden Politikbetriebes. Nicht nur für die Masse der Wähler, auch für engagierte Genossinnen und Genossen sind die grundsätzlichen Differenzen zwischen beiden Konzepten mitunter schwer zu durchschauen – ein wichtiger Grund, sie deutlich zu machen.

Das allgemeine Bekenntnis zur »Transformation der Gesellschaft« innerhalb der Partei suggeriert eine Einigkeit im Grundsätzlichen, die es eigentlich gar nicht gibt. Es täuscht ein gemeinsames Konzept des aktuellen Kampfes um soziale und politische Verbesserungen und für eine »Überwindung des Kapitalismus« vor, das in dieser Weise nicht vorhanden ist. Es schafft Raum für politische Manöver, um die Partei weiter nach rechts (bis zur Selbstaufgabe im Kreis der Regierenden) auszurichten und dabei die Illusion einer »pluralistisch-sozialistischen Partei« aufrechtzuerhalten. Dazu vier Thesen mit einigen wenigen Erläuterungen.

Anpassen
Erstens: In den Führungsgremien der Linken haben sich die Anhänger einer Klassenpolitik und diejenigen, die auf Anpassung an den herrschenden Politikbetrieb setzen, arrangiert. Mit dem Bielefelder Parteitag verstärkt sich die Tendenz, die Kontrolle des »Reformlagers« über die Gesamtpartei auszubauen. Das Wort »Transformation« kaschiert dabei tiefgreifende politische und strategische Differenzen zwischen den sich arrangierenden Strömungen.

Entscheidende Teile wie der Parteiapparat im Karl-Liebknecht-Haus, die ostdeutschen Landtagsfraktionen, die ND-Redaktion und die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung waren in der PDS wie auch später in der Linken immer fest in der Hand der »Reformer«.

Zugleich wurden seit der Vereinigung von PDS und WASG und der Wahl von Bernd Riexinger und Katja Kipping 2012 in Göttingen zu Kovorsitzenden (und der Wahlniederlage von Dietmar Bartsch) die Führungsgremien auf Bundesebene zu Foren des Arrangements beider Gruppen und einer jeweils mehr oder weniger großen und vielschichtigen Mittelgruppe.

In der Bundestagsfraktion z. B. gehören zur antikapitalistischen Strömung gut 25 Prozent der Abgeordneten, zur Gruppe der »Reformer« rund 50 Prozent. Im zwölfköpfigen geschäftsführenden Parteivorstand sind die drei Gruppen derzeit etwa gleich stark vertreten. Auf dem Bielefelder Parteitag stimmten für den Antrag von Inge Höger (MdB) von der Antikapitalistischen Linken (AKL), die Rede des scheidenden Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi vorzuziehen (dagegen sprach Katja Kipping), 169 Delegierte, dagegen 241. Andere Anträge der AKL wie z. B. die Forderung, die roten Haltelinien bei Regierungsbeteiligungen strikt einzuhalten, wurden mit großer Mehrheit abgelehnt.

Ab Oktober 2015 soll es nach dem Rückzug von Gregor Gysi nunmehr mit Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch eine Doppelspitze der Bundestagsfraktion geben. Das Zusammenwirken einer Linken mit einem »Reformer« wird zum Markenzeichen der Partei.

Es geht bei all dem sicherlich um ein fragiles, umkämpftes und auch schwer einzuschätzendes Kräfteverhältnis, aber wohl nicht um ein kurzfristiges Arrangement. Eine offenkundige, geradezu demonstrative Totalkontrolle des »Reformlagers« über die Gesamtpartei wie im Falle der PDS in den Jahren nach 2000 ist offenbar nicht geplant. Das hatte damals letztere in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise gestürzt und brachte bei der Bundestagswahl 2002 gerade einmal vier Prozent der Stimmen. Daraus haben die »Reformer« offensichtlich Konsequenzen gezogen.

Diese Schlussfolgerungen betreffen zunächst die Wahlstrategie (keineswegs die der Programmatik). Gemeinsame Interessen zwischen beiden »Lagern« bestehen insofern, als die Fünfprozentklausel des Bundeswahlgesetzes es beiden geraten erscheinen lässt, zusammenzubleiben. Die Präsenz in der öffentlichen parlamentarischen Debatte, die Parteienfinanzierung und der Zugriff auf zahlreiche Ämter im Rahmen des gewerbsmäßigen Parlamentarismus und des Parteienstaates verstärken dieses gemeinsame Interesse.

Das Arrangement, das sich seit mehreren Jahren beobachten lässt, bedingt Vorteile in der Wahlkampfführung. »Unsere Erfolge sind die Erfolge aller Flügel«, sagte Dietmar Bartsch zu dieser Interessenallianz auf dem Parteitag. Man kann unterschiedliche Wählerschichten ansprechen. Es kann links geblinkt werden, um dann doch »im Interesse der Kompromissfindung« nach rechts zu steuern.

Insofern geht es auch um ein politisches Verwirrspiel des »Reformlagers«. Aus linker, d. h. antikapitalistischer Sicht, hat diese Zusammenarbeit sehr negative Konsequenzen. Auf dem Bielefelder Parteitag konnte dieses »Lager« seinen Einfluss erweitern. Es verstärkte seine Bemühungen, durch »Umarmung« einen Teil der »Linken in der Linken« politisch zu »mäßigen« sowie einen anderen Teil auszugrenzen und zu marginalisieren.

Notwendige politische Debatten über Grundsatzfragen wurden abgeblockt. Klartext reden, über die gesellschaftlichen Zustände aufklären war nicht gefragt. Alleinstellungsmerkmale der Partei (wie Ablehnung aller Kriegseinsätze, Bekenntnis zum Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, rote Haltelinien bei Regierungsbeteiligung, differenzierte Sicht auf den Sozialismusversuch DDR) verlieren so sukzessive ihre klaren Konturen. Außerparlamentarische Kampagnen laufen Gefahr, nur halbherzig geführt zu werden.

Zweitens: Zwischen einem als radikale Realpolitik ausgerichteten Transformationskonzept und einer langfristig angelegten Strategie des Kampfes um einen neuen Sozialismus, die auf der Dialektik von Reform und Revolution basiert, gibt es im Grunde keinen wirklichen Unterschied. Deshalb hat es auch wenig Sinn, vorrangig gegen das Wort »Transformation« zu polemisieren.

Es geht bei den Verfechtern eines revolutionären Transformationskonzepts und denjenigen, die über die Dialektik von Reform und Revolution im antikapitalistischen Kampf des 21. Jahrhunderts nachdenken, um ein und dasselbe: Angesichts der tiefen Krise des subjektiven Faktors und der politischen und ideologischen Stabilität der gegebenen Herrschaftskonstellation zugunsten des Kapitals, aber auch angesichts einer sich abzeichnenden, lang anhaltenden Verfallskrise des Kapitalismus im 21. Jahrhundert gibt es keine Alternative zu einer längerfristigen Übergangsstrategie im Kampf der arbeitenden Klasse um die Macht. Es muss »zuerst«, wie Friedrich Engels 1881 schrieb, »um einen Anteil an dieser Macht, später um die ganze Macht« gekämpft werden.²

Darüber, wie diese Übergangsstrategie, die am Ziel des Sozialismus festhält, grundsätzlich und im Detail angelegt sein muss, ist weiter nachzudenken und zu diskutieren. Sie als »Transformationsstrategie« zu bezeichnen, ist wegen der Nähe dieses Wortes zum illusionären Konzept des »friedlichen Hineinwachsens« sicherlich auch problematisch. Aber diese Benennung hat sich nun einmal durchgesetzt. Sie wegdekretieren zu wollen wäre Unsinn. Hochproblematisch wäre, diejenigen, die von Transformation im revolutionären Sinne reden, wegen dieses Wortes ins Lager der »Reformer« zu verweisen.

Eine Losung etwa der Art: »Statt Kampf um grundlegende Reformen demnächst Revolution«, ginge an den geschichtlichen Erfahrungen völlig vorbei. Ohne eine erfolgreiche politische Klassenbildung der »Eigentümer von bloßer Arbeitskraft« (Karl Marx) im Kampf um progressive Reformen kann es auch keine erfolgreiche sozialistische Revolution geben (und natürlich auch keine »politische Wende« gegen den Neoliberalismus). Für den Fall, dass im 21. Jahrhundert irgendwann die gesellschaftlichen Zustände im Zuge eines krachenden Kapitalismus unerträglich werden sollten und die politische Erbitterung bis zu einer revolutionären Situation anwachsen sollte, würde eine Revolution (revolutionäre Situationen »ereignen« sich und werden nicht »gemacht«) ohne »reale Klasse« als politischer Akteur unweigerlich mit einer Niederlage, mit einem politischen Rechtsruck enden. Wichtig ist eine Verständigung über die nächsten Aufgaben einer längerfristigen revolutionären Reformstrategie.

In deren Mittelpunkt muss die Mobilisierung der abhängig Arbeitenden und aller Benachteiligten im Kampf für ihre Interessen stehen. Es geht um ein klassenorientiertes Reformprojekt, das grundlegende Veränderungen der Eigentumsverhältnisse fordert, und um den entschiedenen Kampf für ein derartiges Projekt. Kurz- und mittelfristig ist die Erfordernis: die schrittweise Erkämpfung von politischer und gewerkschaftlicher sowie kultureller Gegenmacht. Notwendig ist die Zurückweisung all jener seltsamen Konzepte, die behaupten, dass der Kapitalismus dabei sei, sich selbst abzuschaffen, oder von »willensstarken« und klarsichtigen linken Politikern sukzessive gezähmt und überwunden werden könne. Über das »Wie« der nach Friedrich Engels »später« anstehenden Aufgabe, die »ganze Macht« zu erkämpfen, wird man im übrigen wohl noch eine ganze Weile diskutieren können.

Nicht kritisieren
Drittens: Auf und vor dem Bielefelder Parteitag wurde viel über Transformation geschrieben und geredet. Dabei wurde deutlich, dass dessen revolutionäre Variante des Transformationskonzepts in der Linken sehr wohl präsent ist, aber parteioffiziell die reformistisch-illusionäre dominiert und Kritik daran partout nicht erwünscht ist.

Im Leitantrag heißt es: »Wir werden machbare und konkrete Reformalternativen zur angeblichen Alternativlosigkeit der Merkel-Regierung erarbeiten, die gleichzeitig die Transformation zu einer insgesamt gerechteren Gesellschaft in den Blick nehmen.« Eine Lageanalyse des Kapitalismus wird nicht gegeben. Vor allem aber ist nirgendwo von dem Kernstück einer »revolutionären Transformationsstrategie« die Rede: der Orientierung auf Entwicklung der abhängig Arbeitenden zur »realen Klasse«, vom Kampf um ein tragfähiges und zeitgemäßes Klassenprojekt, das auf grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichtet ist. Es fehlt allerdings nicht an richtigen Forderungen, so wenn davon gesprochen wird, dass die »Eigentumsfrage zentral« sei oder die Partei den Kampf gegen »die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit rücken« müsse. Es werden also geringe Konzessionen an ein revolutionäres Konzept gemacht, aber mehr auch nicht. Die Vorstellung von der »Transformation zu einer gerechteren Gesellschaft«, die der Leitantrag »in den Blick« nimmt, ist halbherzig und voller Illusionen.

Die Linke erklärt sich in diesem Leitantrag zum »Motor einer gesellschaftlichen Opposition gegen die Politik der großen Koalition«. Ein Politikwechsel sei nur möglich, »wenn sich die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft verändern«. Das sei irgendwie greifbar nahe. Dafür brauche man »eine starke parlamentarische Verankerung ebenso wie einen Aufschwung sozialer Bewegungen und Proteste«.

In einer an den Parteitag gerichteten Erklärung des Ältestenrates vom 23. März, im Referat von Bernd Riexinger auf dem Parteitag und in einem eineinhalb Monate zuvor von ihm und Katja Kipping präsentierten Strategiepapier werden andere, tragfähige Eckpunkte einer linken Gesellschaftsstrategie genannt, die mit den in der zweiten These genannten Eckpunkten einer revolutionären Transformationsstrategie übereinstimmen.

Die Herausforderung bestehe darin, so heißt es in dem Strategiepapier, »die chinesische Mauer zwischen isolierten Tageskämpfen und weitgespannten Zukunftsvorstellungen (…) zu durchbrechen.« Ein »wirklicher Politikwechsel«, so Riexinger auf dem Parteitag, sei nur durchsetzbar, »wenn es einen Stimmungswechsel in der Bevölkerung gibt und eine außerparlamentarische Bewegung, die einen solchen Politikwechsel unterstützt«. Demokratische Politik, heißt es wiederum im Strategiepapier, müsse »auf eine Transformation der politischen und ökonomischen Formen zielen und eine Exitstrategie aus dem Krisenkapitalismus entwickeln«. Gefordert werden grundlegende Veränderungen der Eigentumsverhältnisse. Notwendig seien »neue Formen der Klassenmacht, der organisierten Macht der Erwerbslosen, Prekären und Beschäftigten der verschiedenen Sektoren, um das, was in einem reichen Land selbstverständlich sein sollte, auch durchzusetzen«.

Hier stehen sich zwei verbal sehr ähnliche, aber inhaltlich konträre Konzepte gegenüber. Zur Realität gehört allerdings, dass nicht die auf Klassenwiderstand, politische Klassenbildung, Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und auf Exit aus dem Krisenkapitalismus orientierende »Transformationsstrategie« den Leitantrag bestimmt hat, sondern es waren überwiegend die Positionen des »Reformlagers«. Kritik am Leitantrag gab es auf dem Parteitag in Gestalt zahlreicher Anträge der AKL, der KPF und des Geraer Sozialistischen Dialogs. Bei nur wenigen Gegenstimmen wurde die Vorlage allerdings angenommen.

Mitmachen
Viertens: Der Ausgang des Bielefelder Parteitages bedeutet eine Orientierung auf weitere Regierungsbeteiligungen in den Ländern. Diese werden aber zur Integrationsfalle, zum Vehikel, um der Linken die politische Intelligenz auszutreiben und in ihr die reformkapitalistische Variante des Transformationskonzepts durchzudrücken.

Dieser angebliche Weg zu einem »linken Politikwechsel« wurde gebilligt und damit auch die mit dieser Beteiligung einhergehenden negativen Veränderungen in der Politik der Linken. Zur Diffamierung und Delegitimierung der DDR als »Unrechtsstaat« im Zuge der Bildung der Thüringer Landesregierung gab es auf dem Parteitag keinen einzigen kritischen Beitrag. Unmut über Bodo Ramelow, der in seinem Beitrag nichts zu seiner jüngsten Forderung nach einem positiven Verhältnis zur Bundeswehr sagte, war zu hören, hielt sich aber in Grenzen. Im Leitantrag fehlte jeder selbstkritische Ansatz angesichts der erdrutschartigen Verluste der Linken in Brandenburg (113.000 ehemalige Wähler wechselten 2014 gegenüber 2009 ins Lager der Nichtwähler, 32.000 stimmten für andere Parteien). Statt dessen gab es Lob für die »sorgfältige Abwägung« der Parteibasis in Brandenburg, ob man weiter mitregieren wolle. Das Ergebnis ist bekannt. Auf das Lob folgten ermunternde Worte, »das Begonnene zum Erfolg zu führen und dabei erneut die soziale Frage zum Maßstab des Regierungshandelns zu machen«.

Zu der realistischen Einschätzung, dass diese und weitere Regierungsbeteiligungen die Partei ruinieren werden, keine politische Wende gegen den Neoliberalismus bringen, allenfalls wenige Verbesserungen um den Preis einer Krise und der eigenen Glaubwürdigkeit, ist die Linke offensichtlich weder bereit noch fähig. Nicht zu übersehen war die Distanz vieler Delegierter zum Werben Gregor Gysis für »Rot-Rot-Grün« auf Bundesebene. Aber es gab dennoch 15 Minuten stehende Ovationen für seine Abschiedsrede, in der er seiner Partei eine deutlich andere Handlungsorientierung unterjubelte als die im Leitantrag kurz zuvor beschlossene. Allerdings: Trotz Beifallssturms mochten die Parteitagsdelegierten nicht seinem Plädoyer für eine baldige Regierungsbeteiligung im Bund nicht folgen.

Gysi hatte mit seiner Abschiedsrede das letzte Wort, sprach von »Mitverantwortung durch Regieren«, fabulierte über die sich dann ergebenden Chancen für ein »Mehr an sozialer Gerechtigkeit und Demokratie«, plädierte für die Bewahrung der guten Seiten des Kapitalismus, polemisierte gegen ein Beharren auf »Haltelinien jeglicher Art« als Ausdruck des »Misstrauens gegenüber der eigenen Verhandlungsdelegation«. Das war nicht mehr »Transformationsstrategie«, das war Reformkapitalismus pur.

Die Sehnsucht nach dem Regieren trifft sich hier mit tatsächlicher oder vorgeblicher Ignoranz gegenüber den bestehenden Kräfteverhältnissen und der Staat und Gesellschaft durchdringenden Macht der Konzerne, Banken und Finanzmärkte.

Die Linke ist offenbar an einen Punkt gelangt, da ihre maßgebenden Politiker im herrschenden Betrieb angekommen sind und andere durchaus klar links denkende Mitglieder nicht die Kraft oder den Mut haben, ihnen entgegenzutreten und über Grundsatzfragen linker Politik kontrovers zu diskutieren. Eine Passivität gegenüber der Anpassung kommt dabei auf Dauer einer Kapitulation vor der Hegemonie des »Reformlagers« sehr nahe.

Eine Grundsatzdebatte über ein realitätsbezogenes Politik-, Macht- und Demokratieverständnis in der Linken ist nach diesem Parteitag notwendiger denn je. Ob das Konzept von Dietmar Bartsch, auf beide Flügel im Wahlkampf und auf Opposition im Bundestag zu setzen, lange währen wird, ist nicht vorhersehbar. Einiges spricht dafür. Absehbar aber dürfte sein: Ein Regierungseintritt auf Bundesebene würde das parlamentarische System erheblich zum Schlechten verändern. Die außerparlamentarische Opposition gegen Kriegspolitik und neoliberale Kapitaloffensive hätte keine Stimme mehr im Bundestag. Infolge der dann einsetzenden Glaubwürdigkeitskrise der Linken ginge dies unweigerlich einher mit ihrem Ende als Zehnprozentpartei.

Ekkehard Lieberam ist Politik- und Rechtswissenschaftler und Vorsitzender des Marxistischen Forums Sachsen.

Zuerst erschienen in: Junge Welt, 29. Juni 2015