Klasseninteressen und Einwanderungspolitik

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Die Debatte in der LINKEN um ein Einwanderungsgesetz

Nach Schätzungen der UN-Flüchtlingshilfe befanden sich Ende 2016 weltweit 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht. 40,3 Millionen von ihnen sind „Binnenvertriebene“, das heißt, sie flüchten innerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes. 25,3 Millionen sind über mindestens eine Landesgrenze hinweg geflohen, 2,8 Millionen von ihnen haben im Ausland politisches Asyl beantragt – die Anerkennung, dass sie nicht „nur“ Opfer von Krieg oder Umweltkatastrophen, sondern persönlich politisch verfolgt sind.

von Ianka Pigors

Die Situation in den Lagern der Binnenflüchtlinge ist überwiegend katastrophal, es fehlt an Unterkünften, Wasser, medizinischer Versorgung, Schulen und oft auch an Lebensmitteln. Immer wieder werden Flüchtlingslager von Bürgerkriegsparteien bewusst angegriffen, oder – wie zum Beispiel am 17. Januar 2017 in Rann in Nordnigeria – irrtümlich bombardiert.

Etwa ein Drittel der Geflüchteten, die ins Ausland geflohen sind – etwa acht Millionen Menschen – wurden von sechs Ländern aufgenommen: der Türkei, Pakistan, dem Libanon, dem Iran, Uganda und Äthiopien. Weniger als zehn Prozent, in den Jahren 2015 und 2016 zusammen ungefähr 2,5 Millionen, nahm die EU auf. 2016 wurden mindestens 388.000 Geflüchtete, die die EU-Außengrenzen lebend erreichten, abgewiesen. Über 5.000 kamen nicht einmal so weit, weil sie im Mittelmeer ertranken. Wie viele Menschen auf anderen Fluchtrouten wie zum Beispiel in der Sahara starben, ermordet, vergewaltigt oder verschleppt wurden, kann man nur erahnen.

Die Lage der Flüchtlinge in Ländern wie Uganda kann man sich vorstellen, aber auch in Europa herrschen zum Teil unmenschliche Bedingungen. Geflüchtete werden wie in Ungarn inhaftiert oder wie in Griechenland schlicht nicht versorgt.

Arbeitsmigration

Die ILO (Internationale Arbeitsorganisation) geht davon aus, dass es im Jahr 2013 neben den bereits erwähnten Geflüchteten weltweit darüber hinaus ungefähr 150,3 Millionen ArbeitsmigrantInnen gab. Damit sind fast vier Prozent der über 15-jährigen EinwohnerInnen dieses Planetens und ungefähr 4,4 Prozent der arbeitenden Bevölkerung dieser Welt ArbeitsmigrantInnen. Etwa fünfzig Prozent der ArbeitsmigrantInnen leben in Nordamerika und Europa (ohne Osteuropa), mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen. Die Grenze zwischen Flucht und Arbeitsmigration ist fließend. Eine türkische Journalistin, die sich zurzeit im Ausland bewirbt, denkt vielleicht nicht nur daran, ihren Lebenslauf aufzubessern, sondern hat (auch) ihre zahlreichen, von Erdoğan verhafteten KollegInnen im Hinterkopf. Ein Mann aus Mali, der nach Portugal geht, um Tomaten zu pflücken, will vielleicht gleichzeitig dem Bürgerkrieg ausweichen oder musste seinen kleinen Bauernhof aufgeben, weil aufgrund der Klimaveränderungen der Dorfbrunnen ausgetrocknet ist. Geflüchtete und ArbeitsmigrantInnen zusammengenommen, entspricht die Zahl der weltweit Betroffenen der ungefähren Einwohnerzahl Deutschland, Frankreichs und Großbritanniens.

Schüren von Ängsten und Rassismus

Migration ist nicht nur die Lebensrealität für mehr als fünf Prozent der Weltbevölkerung. Mit MigrantInnen – und der Angst vor Migration – wird weltweit auch Politik gemacht.

Ob, wie zuletzt im Februar dieses Jahres, Einheimische in Südafrika Jagd auf MigrantInnen aus anderen afrikanischen Ländern machen, Präsident Trump den Bau einer Mauer an der mexikanischen Grenze verspricht, die AfD von einer drohenden „Umvolkung“ schwadroniert, Neonazis Flüchtlingsunterkünfte anzünden oder Seehofer „Obergrenzen“ für Flüchtlinge fordert: Immer wieder werden MigrantInnen für soziale Probleme verantwortlich gemacht und als Sündenböcke missbraucht. Das Thema Migration ist daher für uns alle ein wichtiges Thema.

Es lohnt sich daher, zunächst grundsätzlich zu überlegen, wie SozialistInnen und InternationalistInnen zum Thema Einwanderung stehen und um wessen Interessen es eigentlich geht. Welches Interesse jemand in Bezug auf Migration hat, hängt zunächst damit zusammen, zu welcher Klasse man gehört: Musst Du Deine Arbeitskraft verkaufen, oder kaufst Du die Arbeitskraft anderer, um damit Profit zu erwirtschaften?

Die Armen dieser Welt sind Bäuerinnen und Bauern, die den Lebensunterhalt auf ihrem eigenen Stück Land erwirtschaften und ArbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Zusammen sind wir die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung.

Auch wenn soziale Errungenschaften, wie Erwerbslosen- und Sozialhilfe oder Rente, in einigen Ländern durch solidarische Umverteilung verhindern, dass ArbeiterInnen, die zeitweise nicht arbeiten, schlicht auf der Straße verhungern, ist das Interesse, die eigene Arbeitskraft möglichst teuer zu verkaufen, der kleinste gemeinsame Nenner, der die Mehrheit der Weltbevölkerung eint.

Klassenstandpunkt einnehmen

Den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse zu vertreten, heißt deshalb auf der niedrigsten Ebene, möglichst allen Menschen, die sich in dieser Situation befinden, die Möglichkeit zu geben, ihre „Ware“, die Arbeitskraft, zu möglichst guten Bedingungen an jedem beliebigen Ort anzubieten.

Jede Einschränkung ist eine Beschränkung des einzigen Rechtes, das uns der Kapitalismus tatsächlich uneingeschränkt zubilligt.

Wenn viele Menschen ihre Arbeitskraft anbieten, kann dies leicht dazu führen, dass ArbeiterInnen miteinander um Beschäftigung konkurrieren und versuchen, sich gegenseitig zu unterbieten. Eine Situation, von der Arbeitgeber profitieren. Je schlechter ein Teil der ArbeiterInnen gestellt ist, je weniger Rechte sie haben, je dringender sie jeden Cent benötigen, desto weniger muss ihren gezahlt werden, um zu arbeiten.

In der Vergangenheit hat die Arbeiterbewegung zwei Strategien entwickelt, um die negativen Auswirkungen dieser Konkurrenz einzuschränken:

Die erste Strategie hieß Ausgrenzung: Ohne Rücksicht auf die Überlebenschancen der Minderheit versuchte die Mehrheit, bestimmte Teile der Arbeiterklasse vom Arbeitsmarkt zu drängen, um das Angebot künstlich zu begrenzen und damit die Löhne für die „legalen“ oder „erwünschten“ ArbeiterInnen zu verbessern.

Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Forderung des Verbotes der Frauenarbeit der „Lassalleaner“, eines Flügels der Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert, ein anderes das vieler nordamerikanischer Gewerkschaften, die Anfang des 20. Jahrhunderts schwarze ArbeiterInnen von der Mitgliedschaft ausschlossen.

Die Forderungen nach staatlichen Arbeitsverboten scheiterten daran, dass die kapitalistischen Regierungen zwar gerne bereit waren, die Rechte bestimmter Gruppen einzuschränken, aber nicht so weit gehen wollten, durch künstliche Verknappung der Ware Arbeitskraft tatsächlich Lohnerhöhungen zu erzwingen. Statt eines Arbeitsverbotes für Frauen gab es daher die Regelung, dass Ehefrauen für ihre Erwerbstätigkeit die Genehmigung ihres Mannes brauchten – ein Gesetz, dass den Männern nichts nutzte, aber die Frauen benachteiligte. Die Gewerkschaften, die eine rassistische Mitgliederpolitik betrieben, mussten, als sie zu Streiks aufriefen, feststellen, dass dieselben Arbeitgeber, die sie zuvor dafür gelobt hatten, dass sie sich nicht dazu „herab ließen“, schwarze KollegInnen aufzunehmen, plötzlich massenhaft schwarze Streikbrecher anwarben.

Der fortschrittliche Teil der ArbeiterInnenbewegung stellte also schnell fest, dass die Ausgrenzungsstrategie die Klasse als ganzes schwächte. Sie wurde verworfen und durch die Forderungen: “Gleiche Rechte für alle!“ und „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ ersetzt.

Diese solidarische Strategie basiert auf der Erfahrung, dass wir uns nur organisieren und den Arbeitgebern möglichst gute Löhne und Arbeitsbedingungen abtrotzen können, wenn wir die gleichen Rechte haben und nicht gegeneinander ausgespielt werden können.

In Bezug auf Migration bedeutet dies grundsätzlich, dass wir jeder und jedem das Recht zubilligen, dort zu leben und zu arbeiten, wo er oder sie dies für sinnvoll hält. Wir gehen davon aus, dass die gesellschaftliche Produktivität und der vorhandene Reichtum so groß ist, dass – sofern wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen – ein Bevölkerungszuwachs, egal ob durch Zuwanderung oder Steigerung der Geburtenrate, nicht zu steigendem Konkurrenzkampf innerhalb der Arbeiterklasse führen muss, sondern durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und vermehrte Investitionen im sozialen Wohnungsbau, im Sozial- und Bildungswesen, mehr als ausgeglichen werden kann. Dies setzt allerdings eine umfassende Umverteilung von oben nach unten voraus. Dies scheitert an den kapitalistischen Verhältnissen, weshalb der Kampf für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft notwendig ist, um dauerhaft gleiche Reiche für alle Menschen und offene Grenzen zu erreichen.

Interessen der Unternehmer an Einwanderung

Grundsätzlich wollen Kapitalisten weder über Steuern noch über Sozialabgaben an Kosten beteiligt werden, die nicht der Profitmaximierung dienen. Sie möchten daher nicht nur möglichst geringe Ausgaben für Sozialleistungen, sondern ziehen es auch vor, kein Geld für die Bildung und Ausbildung „ihrer“ Arbeitskräfte ausgeben zu müssen. „Fertige“ Fachkräfte aus dem Ausland einzukaufen hat den Vorteil, dass diese ihre Kenntnisse entweder auf eigene Kosten oder finanziert durch ausländische Steuergelder erworben haben. Betriebe, die überwiegend Ungelernte beschäftigen, haben ein Interesse an möglichst niedrigen Löhnen. Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus und Illegalisierte sind ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen besonders hilflos ausgeliefert. Ihre Beschäftigung ist für viele, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen ein lukratives Geschäft, auf das sie nicht verzichten wollen. Gerade in Ballungszentren mit großer Wohnungsnot sind rechtlose MieterInnen eine echte Goldgrube.

Das aktuelle Ausländerrecht kommt diesen Bedürfnissen weitgehend entgegen. Der Arbeitsmarktzugang für hochqualifizierte ZuwandererInnen wurde in den vergangenen Jahren mehrfach liberalisiert, während der Druck auf Menschen mit zeitlich befristeten Aufenthaltserlaubnissen, „um jeden Preis“ zu arbeiten, um ihre Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlieren, weiter verstärkt wurde. Gleichzeitig wurde der Arbeitsmarktzugang für Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, weiter eingeschränkt. Mangelnde „Ausreisebereitschaft“ wird mit immer härteren Kürzungen der Sozialleistungen sanktioniert. Durch diese Maßnahmen wurden immer mehr Menschen in die Schwarzarbeit getrieben. Hinzu kommt die wachsende Zahl von Menschen, denen die Abschaffung des Asylrechts und die Verschärfung anderer Gesetze jede Möglichkeit genommen hat, einen legalen Status zu erlangen und die dadurch in die Illegalität getrieben wurden.

Während auf der Straße rassistische Kontrollen („racial profiling“) zum Aufstöbern „illegaler“ EinwandererInnen an der Tagesordnung sind, sind die Schlupflöcher für Arbeitgeber, die illegalisierte Menschen ausbeuten, groß wie Scheunentore. Selbst wenn dem Zoll bei einer der eher seltenen Schwarzarbeitskontrollen ein „Ermittlungserfolg“ gelingt, werden zumeist nur die SchwarzarbeiterInnen bestraft, während sich die Arbeitgeber als „getäuschte Opfer“ darstellen und herausreden können, obwohl sie die Nutznießer dieser Situation sind.

Arm und Reich

In Deutschland sinken – mit wenigen Ausnahmen der letzten Jahre – seit etwa zwanzig Jahren die Reallöhne. Zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung haben keinerlei Vermögen oder sind sogar verschuldet, während die reichsten zehn Prozent sechzig Prozent des Vermögens besitzen. Gleichzeitig werden soziale Einrichtungen geschlossen, Preisbindungen für Wohnungen aufgehoben, Abgaben steigen. Die Unternehmer werden entlastet, die Finanzierung sozialer Aufgaben immer mehr den Beschäftigten aufgebürdet.

Unter diesen Bedingungen ist es verständlich, dass viele Menschen, die in Deutschland arbeiten, befürchten, dass Zuwanderung die bestehenden Probleme weiter verschärfen könnte: Wenn ausreichend hochqualifizierte FacharbeiterInnen aus dem Ausland angeworben werden können, warum sollten sich die Unternehmen dann überhaupt noch an den Kosten für die Qualifizierung hiesiger Kräfte beteiligen?

Wenn GeringverdienerInnen, die durch die Zwangsmaßnahmen der Jobcenter bereits unter erheblichem Druck stehen, im Niedriglohnbereich jeden noch so schlechten Job anzunehmen, darüber hinaus noch befürchten müssen, mit KollegInnen in Konkurrenz zu geraten, die sich wegen ihres prekären Aufenthaltsstaus gezwungen sehen, für einen Bruchteil des Mindestlohns zu arbeiten und keine Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung oder die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten einfordern können, ist ihre Sorge in Bezug auf Zuwanderung verständlich.

Die Gefahr, auf rechte Demagogen hereinzufallen, die mit dem alten Konzept der „Ausgrenzung“ hausieren gehen, und die Abschottung und Entrechtung von MigrantInnen zur „Rettung der deutschen Bevölkerung“ fordern, kann wachsen.

Mit solchen Ängsten konfrontiert, darf die Linke nicht den Fehler machen, den Ausgrenzungsdemagogen opportunistisch das Wort zu reden.

Stattdessen müssen wir aufzeigen, dass auch die Aufnahme von mehr Geflüchteten und MigrantInnen finanziell und sozial leistbar ist, wenn die Umverteilungspolitik von unten nach oben, die die sozialen Probleme, unter denen sehr viele Menschen ganz unabhängig von Migration leiden, gestoppt würde.

Während berechtigte Ängste durchaus ernst genommen werden sollten, gibt es „Ängste“ die nicht ernst genommen werden können. Wer Angst vor „Überfremdung“ oder „einer Übernahme des Landes durch Muslime hat“ braucht einen Psychologen und keine politische Ansprache.

Debatte in der LINKEN um Einwanderungspolitik

Vordergründig geht es in der derzeit stattfindenden Debatte in der LINKEN um einen Gesetzentwurf, den die „Projektgruppe Einwanderung“ im Auftrag der Linksfraktionen der Landtage Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen im Januar 2017 vorgelegt hat.

Der Entwurf beinhaltet drei „Säulen“ einer „linken Einwanderungspolitik“: 1. die Wiederherstellung und Ausweitung des Asylrechtes, 2. die Vereinfachung der Einbürgerung, sowie die generelle Ermöglichung der doppelten Staatsangehörigkeit und 3. die Regelung der asylunabhängigen Einwanderung.

Während die ersten beidem Themenkomplexe relativ unstrittig sein dürften, ist die letzte „Säule“ heftig umstritten. Viele AktivistInnen sind verunsichert und wissen nicht, wie sie sich zu dem Streit verhalten sollen.

DIE LINKE muss auf die konkreten Fragen der Betroffenen – der hier Lebenden mit und ohne Migrationshintergrund und die der Zuwandernden – Antworten geben.

Der Entwurf des Einwanderungsgesetzes der „Projektgruppe Einwanderung“ enthält viele Regelungen, die theoretisch eine Vielzahl von Problemen lösen könnten. Er spricht allen Menschen, die nach einem Jahr Aufenthalt einen sozialen Anknüpfungspunkt vorbringen können, ein Bleiberecht in Deutschland und das Recht auf Arbeit und vollen Zugang zu allen sozialen Rechten zu.

Dem Entwurf liegen zwei richtige Gedanken zugrunde:

1. Die Mehrheit der Bevölkerung kann die Frage, wer in Deutschland leben soll, und wer nicht, nicht den Reichen und Mächtigen überlassen. Wenn diese das Sagen haben, werden Arbeitskräfte importiert und Menschen, die sich, absichtlich oder unfreiwillig, nicht unproblematisch zur Profitmaximierung verwerten lassen, umstandslos abgeschoben. Die Idee, „soziale Anknüpfungspunkte“ und nicht „wirtschaftliche Nützlichkeit“ zum Kriterium für ein Recht auf Einwanderung zu machen, ist im Vergleich zum Status quo ein Fortschritt, auch wenn auch dieser Idee eine vom Ansatz her nationalistische Einteilung der Menschen in „wir“ in Deutschland“ und „ihr“ anderen zugrunde liegt.

2. Die Konkurrenzsituation zwischen „Einheimischen“ und „ZuwandererInnen“ hat wenig damit zu tun, wie lange jemand (oder seine Vorfahren) bereits auf deutschem Territorium leben, aber viel damit, dass die Einschränkung von Rechten Menschen zwingt, schlechte Standards zu akzeptieren, die sie, wenn sie die gleichen Rechte wie andere Menschen hätten, empört zurückweisen würden. Die Forderung des Gesetzentwurfs, allen Menschen, die sich in Deutschland aufhalten, gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Sozialsystemen zu eröffnen, ist im Prinzip der richtige Weg zur Verhinderung von „Billig-Konkurrenz“ durch rechtlos gestellte KollegInnen.

Der Gesetzentwurf enthält keine Verschlechterungen, sieht aber, wenn auch in erheblich geringerem Maße aus das geltende Recht, Beschränkungen vor. Wenn jemand nach einem einjährigen Aufenthalt den begründeten Verdacht erzeugt, keinerlei soziale Anknüpfungspunkte in Deutschland zu haben – also nicht zu arbeiten, keine Verwandten oder andere Bezugspersonen zu haben, in keinem Verein aktiv zu sein und auch sonst keine Gründe für seinen Aufenthalt in Deutschland zu haben – soll es erlaubt sein, ihn zur Ausreise aufzufordern. Wenn sein Herkunftsland dann zusichert, dass dort die Existenzgrundlage gesichert ist, soll sogar eine zwangsweise Abschiebung erlaubt werden.

Im Vergleich zu den bestehenden Regelungen, die es erlauben, Menschen trotz jahrelangen Aufenthaltes und fester familiärer Bindungen in lebensgefährliches Elend abzuschieben, wäre selbst dies eine Verbesserung.

Gegenargumente

Es gibt jedoch drei wesentliche Gründe, warum DIE LINKE einen solchen Gesetzentwurf nicht einbringen sollte:

Erstens reduziert der Vorschlag Abschiebungen zwar, akzeptiert sie jedoch und unterläuft damit die Programmatik der Partei nach einem klaren Nein zu Abschiebungen und der Illegalisierung von Geflüchteten und einem Ja zu Bleiberecht. Es legt den Schluss nahe, selbst DIE LINKE hätte erkannt, dass Zuwanderungsbegrenzung eine zentrale Aufgabe der heutigen Politik sei. Der Entwurf wäre so ein Einfallstor für die Pläne von RealpolitikerInnen wie Bodo Ramelow, die bereit sind, für ihre rot-rot-grünen Regierungsträume antirassistische Grundsätze über Bord zu werfen.

Zweitens: Der Entwurf ist fantastische, utopische Literatur, allerdings in der wenig populären Form eines juristischen Textes. Die Kräfteverhältnisse im Bundestag schließen aus, dass ein dem Entwurf entsprechendes Gesetz dort eine Mehrheit finden könnte. Die übergroße Mehrheit der Abgeordneten vertritt bewusst kapitalistische Interessen. Selbst wenn es eine wirkliche, linke Mehrheit gäbe, könnten relativ weitgehende Reformen gegen die Wünsche der Unternehmen, wie sie der „Entwurf“ fordert, nur durch enormen Druck der Arbeiterklasse erkämpft werden.

Eben so wenig lässt das Verhalten der LINKEN dort, wo sie an Regierungen beteiligt ist, den Schluss zu, dass eine Zustimmung zum „Entwurf“ zur Bedingung für den Abschluss zukünftiger Koalitionsverträge gemacht werden soll. Schließlich ist Bodo Ramelows Thüringen in Deutschland hinter dem Saarland „Vizemeister“ der Abschiebungen und auch aus Brandenburg und Berlin werden mehr Menschen abgeschoben als aus Bayern (!). Zudem brachte das Land Thüringen gemeinsam mit vier anderen Bundesländern im September 2016 einen Antrag für ein Einwanderungsgesetz in den Bundesrat ein, das eine ganz andere Sprache spricht.

Soweit aus den Ländern mit Regierungsbeteiligung Zustimmung zu dem Entwurf kommt, drängt sich daher der Verdacht auf, dass hier ein Gesprächsangebot an SPD und Grüne gemacht werden soll, die ihrerseits allerdings extrem wirtschaftsfreundliche Einwanderungsgesetze vorgelegt haben und dies weitere Möglichkeiten zu Gesprächen über die Bildung von rot-rot-grünen Koalitionen in der Zukunft ermöglicht.

Drittens: Der vorliegende Entwurf enthält keinen Klassenstandpunkt und nimmt gar nicht Bezug auf den notwendigen Kampf von MigrantInnen und bereits dauerhaft hier Lebenden. Wir führen derzeit in Deutschland vor allem Abwehrkämpfe gegen eine weitere Verschärfung des Asylrechts. Alle anderen Parteien wollen ein „Nicht-Einwanderungsgesetz“. Zentrale Aufgabe der LINKEN ist es, diese Defensivkämpfe zu führen und darüber hinaus für die Ausweitung der Rechte von MigrantInnen zu kämpfen.

Die gesellschaftliche Stimmung ist zurzeit keineswegs so, dass der Gesetzentwurf sofort breite Zustimmung erhalten würde. Die LINKE führt derzeit auch keine Massenkampagne zum Thema Migration, die es auch nur im Ansatz ermöglichen würde, außerparlamentarisch einen solchen Druck zu erzeugen, dass das Parlament gezwungen wäre, sich ernsthaft mit den Vorschlägen des Entwurfs auseinanderzusetzen. Allein die Tatsache, dass die Forderung, die einwanderungspolitschen Vorschläge durch entschlossene Umverteilung von oben nach unten zu finanzieren, nicht einmal angesprochen wird, spricht dafür, dass die VerfasserInnen nicht planen, eine solche Massenkampagne zu initiieren.

Genau das wäre aber nötig und ist ein großes Manko des Gesetzentwurfes: Dieser gibt keine Antworten auf die sozialen Fragen, die sich vielen Menschen, die bereits hier leben, in Bezug auf Einwanderung stellen. Und tatsächlich würde eine Umsetzung des Gesetzentwurfs an dem Umstand, dass verstärkte Zuwanderung unter den jetzigen Bedingungen auch ohne rassistische Gesetze von Arbeitgebern und Vermietern genutzt wird, die Arbeitsmarktkonkurrenz im Niedriglohnsektor und auf dem Wohnungsmarkt weiter zu verschärfen, nichts ändern. Rechtliche Diskriminierung erleichtert Ausbeutung, ist aber nicht die Ursache. Das unterschiedliche Lohnniveau zwischen schwarzen und weißen US-AmerikanerInnen beweist nachdrücklich, dass rassistische Diskriminierung auch ohne gesetzliche Grundlagen wunderbar geeignet ist, die Löhne zu drücken.

MigrantInnen, die sich erst in einer neuen Umgebung zurechtfinden müssen und die Landessprache nicht perfekt beherrschen, sind auch bei rechtlicher Gleichstellung besonders leicht auszubeuten und können so für Sozialdumping missbraucht werden. Deshalb wäre eine offensive Kampagne der Gewerkschaften, diese KollegInnen zu organisieren, von hoher Bedeutung.

Für umfassende Umverteilung von oben nach unten

Ohne radikale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums bedeutet mehr Zuwanderung, dass die bestehenden Ressourcen innerhalb der Arbeiterklasse auf mehr Menschen verteilt werden und die Unternehmen auf Spaltungsmechanismen setzen werden.

Formelle Gesetzesentwürfe, die in ein Parlament eingebracht werden, enthalten grundsätzlich ein „Vorblatt“, indem das Problem (A), die Lösung (B), mögliche Alternativen (C) und Kosten (D) beschrieben werden.

Das Papier der Projektgruppe äußert sich weder zu Kosten, noch zu der für eine linke Partei absolut zentralen Frage der Finanzierung. Es spricht gegen den Entwurf, dass er, wenn er schon in der Form eines Gesetzentwurfs daherkommt, auf die politische Gelegenheit verzichtet, die Finanzierung seiner Umsetzung, zum Beispiel durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine starke progressive Besteuerung von Kapitaleinkommen, zu fordern.

Ohne die laut und deutlich erhobene Forderung, Flüchtlingshilfe und Zuwanderung durch massiven Ausbau des Sozial- und Bildungssystem, radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und die umfangreiche Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus zu ermöglichen und dies durch entschlossene Besteuerung privaten Reichtums zu finanzieren, wird der Gesetzentwurf von bürgerlicher Seite genutzt werden, um bei alteingesessenen „Bio-Deutschen“ und MigrantInnen gleichermaßen Abstiegs- und Verelendungsängste und rassistische Vorbehalte zu schüren.

Für einen Rechtekatalog statt ein Einwanderungsgesetz

Die Parteivorstandsmitglieder Thies Gleiss und Lucy Redler schreiben in einem Bericht von der Debatte im Parteivorstand zum Entwurf des Einwanderungsgesetzea zu Recht: „Wir müssen uns in entschlossener Opposition zum kapitalistischen System positionieren, anstatt zu versuchen, Teile davon zu reparieren und dadurch Teile des Abschottungssystems zu akzeptieren.“ Und: „Aufgabe der LINKEN ist es, einen Rechtekatalog für soziale und politische Rechte für Migrant*innen vorzulegen und einen Weg aufzuzeigen, wie solche Rechte und eine soziale Offensive für Alle gemeinsam von bereits dauerhaft hier lebenden Menschen und Migrant*innen erkämpft werden können. Hierbei muss es nicht nur um eine Ausweitung des Asylrechts und des Staatsangehörigkeitsrechts, sondern um die Abschaffung der diskriminierenden Sondergesetze für Migrant*innen im Aufenthaltsgesetz und vieles mehr gehen. Wir wollen gleiche Rechte für alle hier Lebenden und legale Einreisemöglichkeiten.“

Statt unsere Zeit mit der Ausformulierung höchst theoretischer Gesetzestexte zu verschwenden, sollten wir uns darauf konzentrieren, auf der Straße, in den Betrieben und in den Parlamenten die unsozialsten und integrationsfeindlichesten Bestandteile des bestehenden Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) anzugreifen und ihre Abschaffung zu fordern.

So haben wir auch die Möglichkeit, den rassistischen und arbeitnehmerfeinlichen Charakter des bestehenden Gesetzes zu erklären. Dabei liefert der „Entwurf“ sinnvolle Hinweis.

Die im Entwurf geforderte Aufhebung des wirtschaftlichen Nützlichkeitsprinzips kann durch Streichung der entsprechenden Regelungen im AufenthG gefördert werden. In § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG heißt es: „Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist.“ Diese Vorschrift sollte ersatzlos gestrichen werden. Das gleiche gilt für die entsprechende Regelung für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis („Niederlassungserlaubnis“) in § 9 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AufenthG.

§ 4 Abs. 2 S. 1 AufenthG lautet: „Ein Aufenthaltstitel berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, sofern es nach diesem Gesetz bestimmt ist oder der Aufenthaltstitel die Ausübung der Erwerbstätigkeit ausdrücklich erlaubt.“ Abs. 3 S. 1 lautet: „Ausländer dürfen eine Erwerbstätigkeit nur ausüben, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt.“ Die Vorschriften sind zu streichen.

Das Asylbewerberleistungsgesetz, das (auch anerkannten) Flüchtlingen und Geduldeten geringere Sozialleistungen und schlechtere, medizinische Versorgung zuweist, ist zu streichen. Das Hartz-IV Gesetz (SGB II) ist schlimm genug.

§ 18 AufenthG regelt die Grundsätze der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit. Er beginnt mit den schönen Worten: „Die Zulassung ausländischer Beschäftigter orientiert sich an den Erfordernissen des Wirtschaftsstandortes Deutschland unter Berücksichtigung der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und dem Erfordernis, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen.“ Die gesamte Vorschrift könnte zum Beispiel ersetzt werden durch die Worte: „Eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit wird ArbeitnehmerInnen erteilt, wenn für das angestrebte Arbeitsverhältnis ein anerkannter oder für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag Anwendung findet. Sie kann erteilt werden, wenn die Arbeitsbedingungen den ortsüblichen Standards entsprechen.“

§ 30 AufenthG regelt den Ehegattennachzug. Er setzt zunächst, allerdings nicht für Hochqualifizierte oder Selbstständige und Angehörige bestimmter, wohlhabender Staaten, voraus, dass der nachziehende Ehegatte bereits deutsch spricht. Faktisch schränkt dies den Familiennachzug aus armen Ländern mit schlechter Infrastruktur erheblich ein, da es dort besonders schwierig ist, die Sprache zu lernen und die erforderlichen Prüfungen abzulegen. Im Weiteren wird dann der Ehegattennachzug für InhaberInnen bestimmter Aufenthaltserlaubnisse ausgeschlossen bzw. eingeschränkt. Auch diese Vorschrift könnte ersatzlos gestrichen werden. § 27 AufenthG: „Die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) wird zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.“ ist völlig ausreichend.

Unter dem Stichwort „Liberalisieren“ fordert der Entwurf, die strikte Abgrenzung zwischen der Beantragung von Asyl und Aufenthaltserlaubnissen aus anderen Gründen aufzuheben. Zurzeit verbietet § 10 III AufenthG die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen (zum Beispiel aus familiären Gründen) an abgelehnte AsylbewerberInnen in den meisten Fällen; selbst dann, wenn sie in Deutschland heiraten und eine Familie gründen. § 5 II AufenthG verbietet „in der Regel“ die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, wenn der spezielle, angestrebte Aufenthaltsgrund nicht bereits in einem Visumsverfahren vorgetragen wurde. Dies betrifft vor allem Menschen, die in Deutschland geduldet werden. Die Vorschriften dienen vor allem dazu, Menschen, die überlegen, einen Asylantrag zu stellen, abzuschrecken. Ihre ersatzlose Streichung würde uns dem Ziel des Entwurfes einen großen Schritt näher bringen.

Weitere Forderungen

Die aktuelle Situation ist geprägt von gesellschaftlicher Polarisierung, zunehmendem Rassismus und „Klassenkampf von oben“. Die Lage ist zu ernst, um im Hinterzimmer hypothetische Gesetzesentwürfe zu erfinden. Wir müssen raus auf die Straße und den Rechten Paroli bieten. Der Kampf gegen Rassismus und die soziale Frage sind dabei untrennbar miteinander verbunden.

Die SAV fordert deshalb, den gemeinsamen Kampf in den Schulen, Betrieben und Stadtteilen für:

Nein zur Verschlechterung des Asylrechts durch den so genannten Maßnahmenkatalog der Bundesregierung, der vielen Flüchtlingen jede Unterstützung und Unterbringung verweigert

Nein zur Festung Europa: Frontex abschaffen, Grenzzäune an den Außengrenzen einreißen, Aufhebung des „Sichere Herkunftsländer“-Status

Dublin III Abkommen beenden – für das Recht, im Land seiner Wahl einen Asylantrag zu stellen

Für sichere und legale Einreisemöglichkeiten für AsylbewerberInnen in die EU und nach Deutschland – Aufhebung der Visumpflicht für Geflüchtete

Herstellung eines wirklichen Asylrechts: Grundrecht auf Asyl, wenn Leib und Leben aufgrund von politischer und gewerkschaftlicher Betätigung, nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Geschlecht, Krieg, Umweltzerstörung und sozialer Not, durch staatliche und nichtstaatliche Verfolgung gefährdet sind

Für das uneingeschränkte Recht auf Familienzusammenführung

Nein zu Abschiebungen – Bleiberecht für Alle – Schließung von Abschiebegefängnissen.

Nein zu rassistischen Sondergesetzen für MigrantInnen, vollständige Abschaffung der Residenzpflicht.

Gegen staatlichen Rassismus und Diskriminierung aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, zum Beispiel durch „racial profiling“, Benachteiligung auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt etc.

Gleiche Rechte für Alle, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, weg mit allen Arbeitsverboten.

Bekämpft Fluchtursachen, statt Flüchtende!

Zur Finanzierung: Einführung einer einmaligen Milliardärsabgabe von 25 Prozent auf alle Vermögen über eine Milliarde Euro, einer jährlichen Vermögenssteuer von zehn Prozent auf Vermögen über einer Million Euro und einer progressiven Besteuerung auf Gewinne zur Finanzierung dieser Kosten und sozialer Investitionen für Alle.

Ianka Pigors ist Anwältin für Asyl- und Aufenthaltsrecht und Mitglied der SAV und der LINKEN in Hamburg