Rede von Lutz Getschmann zu 199 Jahre Karl Marx

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Liebe Freundinnen und Freunde,

liebe Genossinnen und Genossen,

Karl Marx hat in einer seiner Frühschriften, genauer: in seiner Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1844, die Hegelsche Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt und endete in seiner in dieser Schrift zu Papier gebrachten Kritik der Religion bei der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei und damit bei dem kategorischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

Nun ist der Kern der Marxschen Theorie ja nicht eine bestimmte Auffassung von Politik oder eine ausgeklügelte Ethik der sozialen Revolution. Sondern vielmehr die Kritik der politischen Ökonomie, eine Methode, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf ihre grundlegenden Strukturmerkmale hin zu untersuchen: Warenform, Wert, Mehrwert. Diese Methode und ihre analytische Schärfe ist es, die das Alleinstellungsmerkmal der Marxschen Theorie ausmacht und aus der sich alles andere ableitet: die materialistische Geschichtsauffassung, die materialistische Dialektik, die Kritik der kapitalistischen Warenökonomie und der ihr zugrundeliegenden Ausbeutungsverhältnisse, die Kritik der Religion und des Staates.

Aber dennoch haben die organische Verbindung von Marxscher Theorie und ArbeiterInnenbewegung und die vielfältigen dabei gemachten historischen Erfahrungen eine politische Ethik hervorgebracht, die in diesem kategorischen Imperativ kulminiert und – etwas nüchterner – auf den Punkt gebracht werden kann, dass es die Aufgabe der MarxistInnen ist, eine Politik zu entwickeln, die der sozialen Befreiung dient und jede Politik zurückzuweisen, die die Befriedung und institutionelle Ankettung der Ausgebeuteten in den bestehenden Verhältnissen verfolgt. Und dieser Widerspruch zwischen Reform und Revolution, Subversion und Einbindung ins Bestehende, aber auch abstraktem und allzu oft ziemlich blutleerem revolutionärem Anspruch und in den realen sozialen Verhältnissen wurzelnder Alltagspolitik verfolgt die sich auf Marx beziehende ArbeiterInnenbewegung seit dem späten 19. Jahrhundert. Der von Brecht einmal als Einheit gedachte „Kampf / Um den Lohngroschen, um das Teewasser / Und um die Macht im Staat“ muss immer wieder aufs Neue in einen Zusammenhang gebracht werden.

Und wenn Rosa Luxemburg am 31. Dezember 1918 auf dem Gründungsparteitag der KPD ausrief: „Wir sind wieder bei Marx, unter seinem Banner.“, dann empfiehlt es sich, die damals von ihr gehaltene Rede genauer zu lesen, denn dort verteidigte sie den originären Marx – und zwar nicht nur den Theoretiker, sondern auch den politischer Denker und Praktiker – gegen den orthodoxen Marxismus eines Kautsky und gegen dessen Postulat von Nah- und Fernzielen und ihre praktische Konsequenz, die Versumpfung der Sozialdemokratie im Alltagsgeschäft des Nur-Parlamentarismus. Die Einfallstore dieser institutionellen Versumpfung sind vielfältig, gerade in vermeintlich nichtrevolutionären Zeiten. Eines davon war immer auch die Kommunalpolitik. Unsere Stadtverordnetenfraktion bewegt sich also in prinzipiell gefährlichen Untiefen einer sehr kleinteiligen Alltagspolitik, die immer wieder an die großen Zusammenhänge zurückgebunden werden muss:

Während die seit Jahrzehnten schwelende globale Überproduktionskrise der Automobilindustrie noch lange nicht überwunden ist und durch permanente Erschließung neuer Absatzmärkte und Billiglohnstandorte verlängert wird, während immer deutlicher wird, dass dieses Modell des erdölgetriebenen motorisierten Individualverkehrs erstens endlich und zweitens bereits jetzt eine Bedrohung für die ökologischen Grundlagen der menschlichen Zivilisation darstellt, streiten wir in der Kasseler Stadtverordnetenversammlung um die geplanten Streichungen im ÖPNV, um die Änderung der Parkgebührensatzung und um die von den Autoparteien SPD und CDU blockierte Einrichtung einer Umweltzone im Innenstadtbereich.Ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nachdem die letzte große Krise des kapitalistischen Weltsystems in den Jahren ab 2008 Millionen Menschen nach dem Platzen der Immobilienblase aus ihrem Wohnraum vertrieben hat und die scheinbare Konsequenz aus dieser Krise die Entstehung einer neuen Immobilienblase ist, deren Auswirkungen in Form von steigenden Mieten, Gentrifizierung und zunehmender Wohnungsnot selbst bis ins relativ randständige Kassel zu spüren sind, ringen wir in der Stadtverordnetenversammlung – bisher vergeblich – darum, mit einer flächendeckenden Sozialwohnungsquote von 30 Prozent bei Neubauten wenigstens eine konkrete Maßnahme zur sozialen Einhegung des Baubooms und zur Schaffung von günstigem Wohnraum durchzusetzen. Und müssen uns von einigen rötlich gewandeten Neoliberalen vorhalten lassen, wir würden Investoren verschrecken und Bauprojekte verhindern.

Während Kriege und die Zerstörung der Gesellschaften des Trikont – auch infolge der kapitalistischen Durchdringung und Modernisierung der Peripherieregionen des Imperialismsu zahllosen Menschen ihre Existenzgrundlagen raubt und momentan 50 Millionen Menschen zu Flüchtlingen macht, während der deutsche Staat die Schotten dicht macht, um sich gegen die Folgen der eigenen Politik zu immunisieren, während auch hier in und um Kassel hunderte Geflüchtete in diesem Moment in der Angst leben, jeden Moment in ein Flugzeug verfrachtet und in den Horror des Krieges und des Terrors zurückgestoßen zu werden, versuchen wir die Kasseler Stadtverordnetenversammlung dazu zu bewegen, vom Land Hessen einen Abschiebestopp nach Afghanistan zu fordern, denn jeder der es wissen will weiß: Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. Und ich weiß jetzt schon, dass man uns am kommenden Montag entgegenhalten wird, die Stadt Kassel sei ja gar nicht zuständig und man äußere sich prinzipiell nicht zu bundespolitischen Themen. Genauso haben sie es auch bei CETA gemacht.

Man kann sich in den Untiefen der Kommunalpolitik leicht verlieren, wenn man nicht immer mal wieder seinen Kompass aus der Tasche holt und sich vergewissert, wohin man eigentlich will. Und das heißt für uns: Ja, die kommunalen Themen sind nicht nur Folien, um darauf eine bestimmte politische Methodik abzubilden. Aber sie stehen eben auch nicht nur für sich, sondern in der Kasseler Stadtpolitik spiegeln sich im Kleinen die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft und des ihr zugrundeliegenden modernen Kapitalismus. Und diese Produktions- und Reproduktionsverhältnisse bringen – im Kleinen wie im Großen – Ausbeutung, Ausgrenzung und soziale Ungleichheit hervor, nicht weil eine bestimmte Politik kurzsichtig, einseitig oder unsozial ist, sondern weil Ausbeutung und soziale Ungleichheit dem Kapitalismus als solchen als strukturelle Gewaltverhältnisse eingeschrieben sind und – Regulierung hin, Deregulierung her – nur durch die Überwindung des Kapitalismus aufgehoben werden können. Und das haben wir nicht nur, aber auch und ganz wesentlich bei Marx gelernt.

Und was wir auch glauben, durch die Marxsche Theorie und die widerspruchsvolle Geschichte der von ihm inspirierten Strömungen der ArbeiterInnenbeweung der letzten 150 Jahre gelernt zu haben, ist, dass „die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst“ sein muss, wie Marx 1879 in einem Zirkularbrief an August Bebel, Wilhelm Liebknecht und einige andere führende Köpfe der deutschen Sozialdemokratie schrieb. Das heißt mit anderen Worten, dass wir keine Kümmererpolitik betreiben wollen, sondern eine Politik, die Menschen dazu ermutigt, selbst aktiv zu werden, in Stadtteilen, Betrieben und Institutionen ihre Interessen selbstbewusst zu vertreten, ihre Forderungen auf die Straße zu tragen und den Mächtigen wachsam und mit Misstrauen zu begegnen, egal welcher Partei sie angehören mögen. Und auch in dieser Hinsicht spiegelt die Stadtpolitik nur die politischen Verhältnisse im Großen wider. Denn jede sich auf Marx berufende politische Praxis muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie dazu beiträgt, die Selbstbefreiungskräfte der Lohnabhängigen und der ausgebeuteten Klassen zu stärken oder vielmehr durch Stellvertreterpolitik zu schwächen. Und in diesem Sinne hoffe ich, auch heute sagen zu können: Wir sind wieder bei Marx.