Wie geht die deutsche Austeritätspolitik mit den Euroländern und der Eurozone um?

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Rede von Sergio Cesaratto auf der Euro-Konferez der AKL im Januar 2017 in Düsseldorf

Lassen Sie mich zuerst einmal sagen, dass ich sehr erfreut bin, vor meinen deutschen Genossinnen und Genossen sprechen zu können. Wir leben in einer Zeit voller Spannungen und Spaltungen, vor allem in den südlichen Ländern, wo die Aussichten für die Wirtschaft wirklich trübe sind. Nationalistische Missverständnisse sind auch in der internationalen Linken möglich. Sicherlich ist einer der Hauptgründe dafür, dass ich feststellen musste, dass viele Menschen ihre Meinung im Hinblick auf die Reformfähigkeit Europas geändert haben, das fehlende Einvernehmen mit ihren Kollegen, den Sozialdemokraten und Gewerkschaften im Norden. Dies gilt nicht für die deutsche Linke; dennoch gibt es bedeutende Fragen, die in der Linken umstritten sind. Obwohl die Trennung transnational ist, d.h. über nationale Grenzen hinausgeht, gibt es sie auch in jeder nationalen Linken.

Doch lassen Sie mich mit der Frage beginnen, die Sie mir gestellt haben, und die die Rolle Deutschlands in der Krise Europas betrifft. Um die Kritik der Voreingenommenheit zu vermeiden, werde ich mich auf das beziehen, was ein herausragender deutscher Wirtschaftshistoriker, Carl-Ludwig Holtfrerich, als das deutsche „währungsmerkantilistische Modell“ bezeichnet hat. Zusammengefasst hat Deutschland seit dem Wirtschaftswunder Anfang der fünfziger Jahre auf eine Inflationsrate abgezielt, die niedriger als die anderer Wettbewerbsländer war, und die festen Wechselkursregime genutzt, um preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Eine zurückhaltende Lohnpolitik mithilfe des Mitbestimmungsverfahrens war für diese Strategie ebenso hilfreich wie die Tatsache, den Rest der industrialisierten Welt eine keynesianische Wirtschaftspolitik verfolgen zu lassen, sich jedoch selbst zu weigern, die Binnennachfrage durch keynesianische Politiken zu stützen. Seitdem diese Strategie beschlossen wurde, hat sie Raum für anhaltende Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik und der Weigerung Deutschlands gegeben, als Lokomotive (und nicht als Waggon) für die Weltwirtschaft zu fungieren. Aus dem theoretischen Blickwinkel Rosa Luxemburgs und Michal Kaleckis macht diese Strategie aus der Sicht deutscher Kapitalisten vollkommen Sinn: Die relative Zurückhaltung bei den nationalen Reallöhnen (im Verhältnis zur Produktivität) führt zu einem großen wirtschaftlichen Überschuss, der auf ausländischen Märkten realisiert (verkauft) wird. Dieses Modell ist auch in einer langen deutschen Tradition eines organischen Staats begründet, eines Staates, der in seiner ordoliberalen praktischen Verfassung der Nachkriegszeit nicht nur das Funktionieren der Märkte erhielt, sondern auch die mächtige deutsche Produktionsmaschine von Bildung und Ausbildung bis hin zur Außenhandelspolitik aktiv organisierte. Der Bundesbank kam die Rolle des Kontrollorgans der deutschen Tarifverhandlungen zu. Die deutschen Wirtschaftswissenschaftler, gut vertreten durch Hans-Werner Sinn, sind überwiegend doktrinär und ziemlich nationalistisch, bereit, das deutsche Modell und die politischen Vorschriften gegenüber dem Rest der Welt vor jeder Kritik zu schützen. Wenn ich in Deutschland bin, habe ich das Gefühl, dass jeder in dieser Produktionsmaschine seinen Platz hat. Ich bin voller Bewunderung für diese Leistung, und überlasse es dem deutschen Volk, sie endlich einmal zu kritisieren.
Als europäischer Ausländer komme ich jedoch zu dem Schluss, dass die dominierende deutsche Ideologie und die deutsche Politik von einer derartigen solipsistischen Sicht aus nicht in der Lage sind, die Führung eines allumfassenden europäischen Projekts wahrzunehmen.
Deutschland hat jedoch kein anderes europäisches Land gezwungen, der Wirtschafts- und Währungsunion beizutreten. Unter dem Einfluss der damaligen überschwänglichen Rückkehr zur präkeynesianischen Wirtschaftspolitik und insbesondere zu der Vorstellung, dass Währungspolitik (von Finanzpolitik ganz zu schweigen) langfristig ineffizient sei, beschloss Italien, dass es besser sei, sich politisch die Hände zu binden und die Wirtschaftspolitik einer ausländischen (von Deutschland dominierten) Zentralbank zu unterstellen. Die Idee war es, eine wirtschaftliche und institutionelle Konvergenz mit Deutschland zu erzwingen. Diese Entscheidung war Teil eines größeren Konzepts, die nationalen Arbeiterbewegungen ihres natürlichen Umfelds, d.h. des nationalen souveränen Staates, zu berauben. Dies leitet eine weitere Aporie des Euro ein: In einer staatenlosen Währungsunion übernimmt das stärkste Land die Vorherrschaft, und das stärkste Land ist das mit den stärksten Wirtschaftsinstitutionen, die im Falle Deutschlands von einem promerkantilistischen Staat repräsentiert werden. Anstatt eine Strategie des Kompromisses zur Vermeidung sozialer Konflikte und für die nationale Entwicklung zu verfolgen, verfolgte Italien eine Strategie des selbst auferlegten Zwangs aus dem Ausland (des Euro), die sich schließlich ins Gegenteil umkehrte und seine externe Wettbewerbsfähigkeit schädigte.
Zahlreiche Kommentatoren beschuldigen heute die Wirtschafts- und Währungsunion bzw. die sogenannte Methode Monnet, den Karren vor das Pferd gespannt zu haben, d.h., eine Währungsunion vor einer politischen Union hergestellt zu haben. Doch wären eine politische Union und insbesondere eine echte, progressive föderalistische Union in Europa möglich? Nun, wie wir gerade gesehen haben, ist eine keynesianische Union mit koordinierten expansiven Fiskalpolitiken, die von einer kooperativen EZB unterstützt werden, angesichts der merkantilistischen, solipsistischen Haltung des deutschen Kapitalismus unmöglich. Noch weniger Hoffnung gäbe es, fürchte ich, für ein progressives föderales Europa. Ein Parlament einer hypothetischen Europäischen Föderalen Union mit erheblicher Verfügungsgewalt über föderale Ressourcen wäre wahrscheinlich bald nach nationalen Interessen gespalten, was den politischen Zusammenhalt der Union unterminieren würde. Wie Hayek (1939) andeutete, würde ein minimalistischer föderaler Staat übrig bleiben, der lediglich Regeln festlegt, eine Lösung, die von Ordoliberalen und konservativen europäischen Eliten favorisiert wird. Hayek argumentiert kurz gesagt, dass ein liberales Wirtschaftssystem eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg einer jeden zwischenstaatlichen Föderation ist (ibid, S. 269). Dieses System werde die Form eines rationalen ständigen Rahmens annehmen müssen, in dem jede einzelne Initiative die größtmögliche Reichweite hat (ibid, S. 268). Hayek zufolge handelt es sich hierbei auch um den einzig machbaren zwischenstaatlichen Föderalismus, da jede bedeutende Haushaltskompetenz eines föderalen Staates, die über eine weit gefasste regelungspolitische Rolle hinaus geht, bald zu einem zwischenstaatlichen Konflikt über die politischen Maßnahmen und die Verteilung der föderalen Ressourcen führen würde (ibid, S. 266). Hayek zufolge ist dies der Grund, weshalb der zwischenstaatliche Föderalismus das Mekka des Liberalismus (und insbesondere nicht des Sozialismus) ist. Wenn ein echter föderaler Staat, der aus kulturell verschiedenen Ländern besteht, eine naive Utopie ist, dürften die meisten Länder natürlich die Perspektive eines minimalistischen ordoliberalen Staats ablehnen, wie er zur Zeit von den europäischen Institutionen vorgeschlagen wird (Europäische Kommission 2015). Diese Schlussfolgerung erklärt zusammen mit den unbekannten Kosten eines Scheiterns des Euro ziemlich gut die derzeitige europäische Pattsituation und Tragödie.
Wofür sollten wir dann kämpfen?
Ich denke, dass wir uns zuerst vor allem stärker der regressiven Natur der supranationalen Entitäten und des europäischen Projekts bewusst sein sollten. Tatsächlich ist der einzig realisierbare Vorschlag auf dem Tisch der eines europäischen Superstaates, der die Euro-Mitglieder verpflichtet, ihre verbleibende haushaltspolitische Zuständigkeit an Brüssel abzugeben, damit das derzeitige Modell einer Verringerung der Macht der lokalen Staaten ohne eine Verbesserung der Macht eines föderalen Staats gestärkt wird. Dies ist ein eindeutiger Anklang an den von Hayek propagierten minimalistischen föderalen Staat. Eine solche Lösung wird für die meisten Länder der Peripherie kein Wachstum mit sich bringen, und da die Lösung einer progressiven Währungsunion nicht in Sicht ist, erscheint vielen Kommentatoren eine Rückkehr zu souveränen Nationalstaaten und zu einer lockereren europäischen währungspolitischen Koordinierung die einzige realistische Alternative.
Die wirtschaftlichen Aussichten für Italien sind äußerst trübe. Selbstverständlich gibt es tausend Gründe dafür, das italienische Volk für seine Probleme selbst verantwortlich zu machen. Tatsache ist jedoch, dass Italien mit einer positive Leistungsbilanz in die Wirtschafts- und Währungsunion eintrat und nach zehn Jahren ein beträchtliches Defizit verzeichnete, während ein Jahrzehnt der Austeritätspolitik den nationalen Markt zerstörte, für das Verschwinden eines Viertels der Herstellungskapazitäten sorgte und zu einer dramatischen Bankenkrise mit mehr als 300 Milliarden Euro fauler Kredite führte. Der Lebensstandard des Großteils der Bevölkerung ist rapide gesunken. Unter dem Druck Berlins fordert die Europäische Kommission die italienische Regierung auf, weitere Haushaltskürzungen vorzunehmen. Dies würde die zaghafte wirtschaftliche Erholung Italiens weiter erschweren (gegenüber Spanien, dem immer erlaubt wurde, die haushaltspolitischen Bestimmungen zu verletzen, was dazu beiträgt, seine Leistung besser zu erklären, wird nicht derselbe Eifer/Inbrunst an den Tag gelegt). Einige Maßnahmen zur Anwendung des Fiskalvertrags – die Senkung des Verhältnisses der Staatsverschuldung zum BIP auf 60% in den nächsten 20 Jahren – werden möglicherweise 2018-19 erforderlich sein. Zusammen mit der Beendigung der quantitativen Lockerung Draghis (sein „weltoffenes” Mandat nach angelsächsischer Manier endet ohnehin 2019) könnte dies den endgültigen Zusammenbruch der italienischen Wirtschaft und Gesellschaft besiegeln. Wird das italienische Volk die Kraft haben, zu reagieren? Leider erwarte ich nicht viel von der Fünf-Sterne-Bewegung, während die Linke ziemlich gespalten und sich des dramatischen Ausmaßes des Problem noch wenig bewusst ist, d.h. sie ist noch immer internationalistisch, kosmolitisch und utopisch. Letzte Woche nahm ich an einer gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalteten Sitzung in Rom teil. Tatsächlich waren die von der Stiftung vorgestellten 22 Thesen zu Europa Gegenstand der Diskussion. Dazu sollte ich sagen, dass ich überhaupt nicht mit ihnen übereinstimmte. Obgleich es ein paar Lippenbekenntnisse zur Wiederbelebung des Nationalstaats als dem natürlichen Schauplatz der demokratischen Auseinandersetzung gab, wurde diese Perspektive in der Praxis zugunsten gesamteuropäischer Ziele abgelehnt. Mit den bemerkenswerten Ausnahmen von Stefano Fassina und Giorgio Cremaschi (sowie mir selbst) stimmten die italienischen Veranstalter und Teilnehmer diesen Thesen überwiegend zu. Anzumerken ist, dass diese Menschen Vertreter einer italienischen Linken sind, die jede Glaubwürdigkeit und Unterstützung durch die Bevölkerung verloren hat (ich fand die Beiträge von Personen wie Luciana Castellina sogar arrogant und elitär). Ich war enttäuscht über Mario Candeias’ Schlussfolgerungen, der die stattfindende lebendige Diskussion als akademisch abtat und als Ausweg ein Engagement an der Basis befürwortete – ein bisschen zu wenig für die historische Herausforderung, vor der wir stehen! Ich stimme mit Mario überein, dass einige Diskussionen wirklich Zeitverschwendung sind und dem Normalbürger unverständlich erscheinen. Ich hätte in der Tat gern, dass sich die italienische Linke auf das Problem im eigenen Land konzentriert, das wir noch immer wenig verstehen (auch aufgrund des bedauerlichen Zustands der Wirtschaftsforschung, die von der vorherrschenden Doktrin vernichtet wurde). Was genau ist beim italienischen Wirtschaftsmodell schief gelaufen, welche Rolle spielte der Euro dabei, wie kann es reformiert werden? Und man sollte nicht zu viel von einer naiven, unrealistischen und elitären europäischen Solidarität erwarten, was nur Zeitverschwendung ist.
Es ist natürlich nicht leicht, eine politische, soziale und wirtschaftliche Plattform zu gestalten, um aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen. Obwohl sie immer mehr gegen den Euro und gegen Europa eingestellt ist, befürchtet die italienische Öffentlichkeit (früher die glühendsten Pro-Europäer), den europäischen Anker zu verlieren, auch wenn er zunehmend feindselig betrachtet wird. Die Kosten eines Scheiterns des Euro können beträchtlich sein, wenngleich sie für ein Land wie Italien mit einer geringen Netto-Auslandsverschuldung (30% des BIP im Vergleich zu beispielsweise 100% in Spanien) nicht übertrieben werden sollten. Die europäische Regulierung, der die italienische Regierung dummerweise zugestimmt hat, behindert nun die Umschreibung der italienischen Staatsverschuldung in eine neue italienische Lira. Auf eine Erholung werden erwartungsgemäß wirtschaftlich turbulente Zeiten folgen. Die wirkliche Gefahr liegt in der Vergeltung der ausländischen (d.h. europäischen) Regierungen. Was dies anbelangt, wiederhole ich, dass der erste Slogan für die europäische Linke die Möglichkeit für jedes Land betreffen sollte, seinen Raum für politische, wirtschaftliche und demokratische Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Auf dieser Grundlage kann und muss wieder eine neue europäische Freundschaft aufgebaut werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Sergio Cesaratto ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Wachstums- und Entwicklungswirtschaft, Währungs- und Finanzpolitik in der Europäischen Währungsunion, Postkeynesianische Wirtschaftspolitik in Sienna (Italien). 

Referenzen
Cesaratto, S. Alternative Interpretations of a Stateless Currency crisis, Working paper DEPS 735/2016, erscheint demnächst im Cambridge Journal of Economics
Hayek, F. A. 1939. The economic conditions of interstate federalism, in ID, Individualism and Economic Order, Chicago: University of Chicago Press.
Luxemburg Stiftung, Europe … what’s left? 22 theses for discussion, http://www.euronomade.info/?p=7318