Die Wagenknecht-Debatte

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Inhaltliche Klärung dringend nötig. Von Sascha Stanicic

Die Debatte um Sahra Wagenknechts Äußerungen zur Flüchtlingspolitik und inneren Sicherheit nimmt bizarre Züge an. Ein Versuch, die Dinge vom Kopf auf die Füße zu stellen und ein Appell für eine an den Inhalten orientierte Debatte.

Sahra Wagenknecht hat mit vielem, was sie sagt Recht. Sie gilt als schärfste Kritikerin der neoliberalen Verhältnisse und der sozialen Ungleichheit im Land. Als solche hat sie DIE LINKE gestärkt. Deshalb ist sie den etablierten Politikern aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP, den bürgerlichen Schreiberlingen von BILD bis SPIEGEL und den Bossen und Bänkern ein Dorn im Auge.
Mit ihren wiederholten Äußerungen zu Fragen der Flüchtlingspolitik und der inneren Sicherheit liegt sie jedoch sachlich und politisch falsch. Und sie gefährdet damit die Zukunft der LINKEN. Deshalb muss sie dafür nicht nur kritisiert werden. Sie muss selbstverständlich auch aufgefordert werden, sich als Spitzenkandidatin in keinen Widerspruch zur Programmatik der Partei zu begeben und sich an inhaltliche Beschlüsse zu halten. Gleichzeitig sollte sie gegen Angriffe aus prokapitalistischen Kreisen und von VertreterInnen des rechten Parteiflügels verteidigt werden, die ihr ungerechtfertigt eine Nähe zur AfD vorwerfen und denen es weniger um die inhaltlichen Aussagen Wagenknechts geht, als darum durch eine Beschädigung ihrer Person, die Parteilinke zu treffen und damit den Weg für Regierungskoalitionen mit SPD und Grünen freier zu bekommen. Letztere muss sich jedoch dringend von Sahra Wagenknecht emanzipieren, um den Kampf um eine sozialistische Ausrichtung der LINKEN führen und gewinnen zu können.

Zu den Inhalten

Sahra Wagenknecht hat im Zusammenhang mit den Vorfällen sexualisierter Gewalt in der Silvesternacht 2015/2016 die Abschiebung vermeintlich krimineller MigrantInnen gefordert und von „Gastrecht“ gesprochen, dass diese verwirken würden. Damit hat sie das Grundrecht auf Asyl und das Recht auf Schutz vor Krieg in Frage gestellt und eine Ungleichbehandlung von Deutschen und Nichtdeutschen gefordert. Letzteres verstärkt die Spaltung der in Deutschland lebenden Arbeiterklasse, die sich aus Lohnabhängigen mit und ohne deutschen Pass zusammensetzt. Das ist keine linke Position. Eine linke Position ist, für Gleichbehandlung aller Menschen, auch von Straftätern einzutreten, und sich der Ethnisierung der Diskussion um sexualisierte Gewalt entgegenzustellen.
Sie hat bei verschiedenen Gelegenheiten angebliche Kapazitätsgrenzen für die Aufnahme von Geflüchteten betont, damit implizit eine Obergrenze dafür gefordert und wiederholt die Aussage getätigt, Deutschland könne nicht alle sechzig Millionen Flüchtlinge auf der Welt aufnehmen. Damit hat sie den Eindruck erweckt, dass die real stattfindende Einwanderung (890.000 im Jahr 2015, 280.000 im Jahr 2016) die sozialen und finanziellen Kapazitäten der Bundesrepublik übersteigen. Das ist völliger Unsinn. Unsinn ist auch so zu tun, als ob es eine reale Möglichkeit gäbe, dass die sechzig Millionen Flüchtlinge, die zum großen Teil innerhalb ihrer Heimatländer oder in Nachbarländer fliehen, nach Deutschland kommen würden. Sie macht aus der sehr konkreten Forderung aus dem LINKE-Programm „Offene Grenzen für Menschen in Not“ eine „Vision“ für eine unbestimmte Zukunft. Das ist keine linke Position. Eine linke Position ist, zu erklären, wie der gigantische private Reichtum dafür genutzt werden kann, für die nach Deutschland kommenden Geflüchteten und die hier lebende Bevölkerung gute Löhne, eine funktionierende Infrastruktur und Sozialleistungen zu finanzieren und sich dafür einzusetzen, dass dafür gemeinsame Kämpfe von Deutschen und MigrantInnen stattfinden.
Sahra Wagenknecht hat außerdem einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einwanderung von Geflüchteten und den Terroranschlägen vom letzten Sommer und vom Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz hergestellt und in diesem Zusammenhang Angela Merkel für eine angeblich „unkontrollierte Grenzöffnung“ im Jahr 2015 angegriffen. Das ist keine linke Position. Eine linke Position ist, zu erklären, dass der Terrorismus dschihadistischer Gruppen durch restriktivere Zuwanderungsregeln nicht gestoppt werden kann, weil er durch die rassistische Islamfeindlichkeit der bundesdeutschen Gesellschaft, die Auslandseinsätze der Bundeswehr und Waffenexporte genährt wird und weil erstens Terrorgruppen wie der Islamische Staat Mittel und Wege haben, UnterstützerInnen in die Bundesrepublik einreisen zu lassen und zweitens es unter hier lebenden und geborenen Menschen leider ein Potenzial für die Dschihadisten gibt. Eine linke Position ist auch, Merkel nicht dafür zu kritisieren, dass sie Geflüchtete ins Land gelassen hat, sondern dafür, dass sie zu wenig unternommen hat, um diese zu integrieren und seitdem das Asylrecht weiter ausgehöhlt hat.
Gegen die Terrorgefahr fordert Wagenknecht mehr Polizei, staatliche Kontrollen und Aufrüstung. Das ist keine linke Position. Eine linke Position ist, die sozialen und politischen Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen ( was Sahra Wagenknecht auch fordert, aber durch ihre Aussagen zu staatlicher Aufrüstung konterkariert), die in Rassismus, imperialistischen Kriegen, ökonomischer Ausbeutung der neokolonialen Welt und Waffenexporten liegen. Und zu erklären, dass der Staat im Kapitalismus kein neutrales, demokratisches Instrument ist, sondern zur Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse eingesetzt wird. Das bedeutet, dass jede staatliche Aufrüstung sich in Zukunft gegen linke Widerstandsbewegungen, Streiks etc. richten kann.
Unterm Strich hat Sahra Wagenknecht zur Flüchtlingspolitik und inneren Sicherheit Positionen formuliert, die die Spaltung der arbeitenden Bevölkerung entlang nationaler, ethnischer oder religiöser Linien vertiefen, die den falschen Eindruck erwecken, die Zuwanderung von Geflüchteten löse soziale Probleme aus bzw. sei für Terroranschläge ursächlich verantwortlich und die Illusionen in den kapitalistischen Staat schüren. Das alles steht dem obersten Ziel sozialistischer Politik entgegen: sozialistisches Klassenbewusstsein und die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse vom bürgerlichen Staat zu fördern, soziale Kämpfe voran zu treiben, die von Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten aller Nationalitäten und Religionen gemeinsam geführt werden.

Diese falschen Positionen werden nicht durch richtige Positionen von Sahra Wagenknecht in sozial- oder wirtschaftspolitischen Fragen aufgewogen. Wenn ein Fehler nicht korrigiert wird, wird er zu einer politischen Tendenz. Diese Tendenz ist bei Sahra Wagenknecht klar und deutlich und drückt sich gerade auch in wirtschaftspolitischen Fragen aus. Sie entwickelt sich von einer, zumindest in Worten, sozialistisch-internationalistischen Position zu einem nationalstaats-basierten Linkspopulismus. Geht sie diesen Weg weiter und setzt ihn in der Partei durch, wird DIE LINKE als Projekt zum Aufbau einer sozialistischen Partei endgültig scheitern. Deshalb ist es so wichtig, die inhaltliche Auseinandersetzung zu diesen Fragen zu führen – sachlich, solidarisch, aber auch klar und deutlich.

Zur Taktik

Sahra Wagenknecht erklärt, sie wolle AfD-WählerInnen für DIE LINKE gewinnen. Daran ist nichts anstößiges. Dafür Anleihen bei der AfD-Rhetorik zu nehmen ist aber grundfalsch und wird auch nicht das gewünschte Ergebnis erzielen. Selbst wenn man durch Aussagen, wie Wagenknecht sie macht, einige WählerInnen davon abhalten könnte von der LINKEN zur AfD zu wechseln, wäre der Preis zu hoch – eine Stärkung rechter Positionen zur Flüchtlingsfrage. Es ist aber vor allem davon auszugehen, dass Menschen, die wegen der Flüchtlingsfrage AfD wählen, sich davon nicht abhalten lassen, wenn DIE LINKE etwas sanfter ins selbe Horn bläst. Es gilt die Regel, dass Menschen eher das Original als die Kopie wählen. Und gleichzeitig wird DIE LINKE andere Mitglieder und WählerInnen verlieren, die sich zurecht über Wagenknechts Äußerungen empören. Ohnehin sollte sich die Partei darauf orientieren, das große bestehende Potenzial unter ArbeiterInnen und Jugendlichen, die nicht AfD wählen, sondern gar nicht zur Wahl gehen (und sich oftmals selbst als links einstufen würden), zu erreichen und zu mobilisieren.
Zur Kampagne gegen Sahra Wagenknecht

So sehr Empörung über Wagenknechts Äußerungen angebracht ist, so sehr ist ebensolche Empörung über die Kampagne gegen sie angebracht. Denn bei dieser Kampagne geht es nicht, um die politischen Inhalte. Von Seiten der bürgerlichen Medien und etablierten PolitikerInnen geht es darum, DIE LINKE zu schädigen. Schade, dass Sahra Wagenknecht dafür die Munition liefert. Trotzdem verteidigen wir sie gegen den haltlosen Vorwurf, sie vertrete AfD-Positionen. Diesen hat sie im Stern-Interview korrekt zurückgewiesen, auf den Vorwurf „Manchmal reden Sie allerdings wie die Frauke Petry der Linkspartei“, sagte sie: „Offenbar kennen Sie die Positionen von Frau Petry nicht: Sozialabbau, Rentenkürzungen, Ja zu Interventionskriegen.“ Und: „Wer gegen wachsende Ungleichheit, ignorante Wirtschaftseliten und käufliche Politik protestieren will, kann das nur mit der Linken. Denn weniger prekäre Jobs, bessere Renten, eine Wiederherstellung des Sozialstaates haben nur wir im Programm.“ Das stimmt und deshalb ist es auch trotz der falschen Positionen von Wagenknecht und trotz der falschen Politik der Partei in verschiedenen Landesregierungen richtig, DIE LINKE zu wählen und in der Partei den Kampf um eine kämpferische und sozialistische Politik fortzusetzen. Denn im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in der Bundesrepublik ist DIE LINKE immer noch ein Gewicht auf Seiten der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten. Und wenn die vielen Debatten und Konflikte etwas zeigen, dann dass es noch Leben in der Partei gibt und dass der Kurs nicht vorherbestimmt ist.

Die Kritik von Seiten der Parteirechten wirkt gleichzeitig unglaubwürdig. Setzen ihre UnterstützerInnen doch in den Landesregierungen von Brandenburg, Thüringen und Berlin Abschiebungen um oder bauen, wie gerade vom Berliner Senat beschlossen, die Polizei weiter aus. Sie setzen also Positionen um, wie sie von Wagenknecht gefordert werden. Es stimmt, dass Wagenknecht eine Rhetorik anwendet, die dazu führt, dass die Spaltungslinien in der Arbeiterklasse vertieft werden und dass sie die Forderung nach Obergrenzen nicht eindeutig zurückweist. Aber im Kern sind sich die Parteirechte und Wagenknecht bei diesen Fragen recht nah. Deshalb ist es richtig, wenn Parteilinke die Angriffe von Seiten des rechten Flügels auf Wagenknecht kritisieren. Sie sollten aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und selbst zu einer kritiklosen Haltung gegenüber Wagenknechts Äußerungen übergehen, diese schön oder klein reden. Ganz falsch wird es, wenn auf inhaltliche Kritik verzichtet werden soll, weil die Kritisierte als „bestes Pferd im Stall“ (Zitat Sabine Zimmermann) oder Garantin für Wählerstimmen betrachtet wird. Eine solche Haltung hat der Arbeiterbewegung in ihrer Geschichte schon genug Schaden zugefügt.
In dem Zusammenhang begrüßen wir es, dass der Parteivorsitzende Bernd Riexinger deutliche Worte gefunden hat und deutlich gemacht hat, dass Wagenknechts jüngste Äußerungen nicht der Programmatik der Partei entsprechen und sie auch aufgefordert hat, sich an die Parteipositionen zu halten. Wir würden uns nur wünschen, dass er ähnlich deutliche Worte in Richtung Bodo Ramelow, der Brandenburger Regierungslinken und der Berliner Partei findet.

Wie weiter?

Sahra Wagenknecht spielt eine herausragende Rolle für DIE LINKE, sie ist aber nicht DIE LINKE. DIE LINKE sind die vielen tausend aktiven Mitglieder und die Programmatik und Praxis der Partei. Leider haben Hauptamtliche, Parlamentsfraktionen und Galionsfiguren ein ohnehin viel zu großes Gewicht, werden Positionen zu oft durch Einzelpersonen medial bestimmt, statt in breiten demokratischen Diskussionsprozessen durch die Mitgliedschaft.

Entscheidend für die Politik der LINKEN im Bundestagswahlkampf sollten nicht die beiden SpitzenkandidatInnen, sondern das Wahlprogramm sein. Nun gilt es eine möglichst viele Mitglieder einbeziehende Debatte um das Wahlprogramm zu führen. Sahra Wagenknecht kann vorschlagen, ihre Positionen im Wahlprogramm festschreiben zu lassen. Sollte die Partei ihr in diesen Fragen nicht folgen, muss sie sich an die Beschlussfassung des Bundesparteitags halten.
Im März kandidiert Sahra Wagenknecht in Nordrhein-Westfalen auf Listenplatz 1 der Landesliste für die Bundestagswahl. Der Landesverband wäre gut beraten, im Vorfeld eine breite Debatte unter Beteiligung von Sahra Wagenknecht in den Kreisverbänden und auf einer landesweiten Diskussionskonferenz zu führen und eine eindeutige Beschlussfassung zu den inhaltlich strittigen Fragen herbeizuführen. Solche parteiöffentlichen Diskussionsveranstaltungen unter Einbeziehung von Sahra Wagenknecht sollten bundesweit organisiert werden.

Die beste Antwort auf die derzeitige Krise der Partei sind jedoch breit von der Partei getragene Kampagnen und Aktionen – für mehr bezahlbaren Wohnraum, gegen Rassismus und in Solidarität mit von Abschiebung bedrohten MigrantInnen, für mehr Personal im Krankenhaus, für eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, in Solidarität mit den sich in Tarifrunden befindenden Beschäftigten bei der Bahn, den Piloten, den Länderbeschäftigten, im Einzelhandel usw.
Das ist auch der einzige Weg, Rassismus und Rechtspopulismus zurückzudrängen. Nur wenn die soziale Frage gesellschaftlich wieder in den Mittelpunkt rückt, nur wenn gemeinsame soziale und gewerkschaftliche Kämpfe von deutschen und nichtdeutschen Lohnabhängigen, Erwerbslosen und Jugendlichen geführt werden, werden diejenigen in den etablierten Parteien und in der AfD, die einen Kulturkampf ausrufen, zurückgedrängt werden können. Dann können auch AfD-WählerInnen überzeugt werden, dass sie mit der neoliberal-arbeiterfeindlichen AfD nur ihre eigenen Schlächter wählen.

Sascha Stanicic ist Bundessprecher der Sozialistischen Alternative (SAV) und Mitglied der Antikapitalistischen Linken (AKL) in der Partei DIE LINKE.