Schillernde Spitze

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Sahra Wagenknecht und die Welt

Ein Kommentar von Renate Schiefer und Sebastian Sommerer.

Im Interview mit der Welt am Sonntag am 19.12.16 (hier nachzulesen) schlägt Sahra Wagenknecht wieder einmal Töne an, die nur mit sehr viel Wohlwollen nicht „missverstanden“ werden können. Nüchtern betrachtet können sie leider sehr wohl verstanden werden.


„Für mich ist links, die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt zu stellen […] leider verbinden heute viele mit „links“ etwas ganz anderes, etwa die Befürwortung von möglichst viel Zuwanderung […]“.
Ja, da hören wir sie wieder deutlich, „Volkes Stimme“. Ein simpler Kunstgriff aus dem Rhetorik-Grundlagenseminar: Lasse andere sprechen – „leider verbinden heute viele …“. Wirst du angegriffen, ziehst du dich aus der Affäre, du hast ja schließlich nur zitiert. Was aber bleibt und wirkt: Das falsche Bild der Linken, veröffentlicht und verstärkt.
Muss unsere Spitzenkandidatin nicht viel eher betonen, was richtig ist? Nein, Linke wollen nicht „möglichst viele“ Flüchtlinge aufnehmen! Sie wollen möglichst vielen, möglichst allen Menschen ermöglichen, dort zu leben, wo sie wollen und können. Sie wollen möglichst vielen Menschen ersparen, in und aus ihren Ländern fliehen zu müssen. Sie wollen deshalb Kriege, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Rüstungsexporte und –produktion beenden. Sie wollen das Recht auf Schutz für Geflüchtete und sie prangern die Fluchtursachen an!
Wer links denkt und fühlt, beharrt auf dem Asylrecht und der Genfer Flüchtlingskonvention, auf dem Menschenrecht auf Schutz vor Verfolgung, Not und Krieg, das für alle gilt und logischer- und menschlicherweise keine Obergrenzen kennen kann. So ist das mit den Rechten, besonders mit Grund- und Menschenrechten: Sie gelten! Für alle Menschen.
Weiterhin formuliert Sahra mehr als schwammig: “Schengen kann nur funktionieren, wenn die Au-ßengrenzen kontrolliert werden. Aus Afrika wird die nächste große Migrationswelle erwartet. Deswegen nochmal: Wir müssen in diesen Ländern etwas verändern, weil sonst verzweifelte Menschen immer wieder versuchen werden, nach Europa zu gelangen, und viele dabei umkommen wie aktuell im Mittelmeer.“
Natürlich ist es wichtig und richtig, die Situation der Menschen vor Ort zu verbessern. Jedoch – wie bereits oben angemerkt – darf das Grundrecht auf Asyl und der Kampf gegen Fluchtursachen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Was möchte Sahra damit sagen, dass Schengen nur funktionieren kann, wenn die Außengrenzen kontrolliert werden? Kontrollen, um die nächste „Migrationswelle“ aus Afrika abzuwehren? Schengen, um frei unter Europäern zu bleiben? Ganz ohne Unterstellungen: Solche Aussagen sind aufgrund ihrer großen Interpretationsmöglichkeiten brandgefährlich! Wer interpretiert sie nicht als Forderung nach Sicherung der EU-Außengrenzen, wie Frontex sie praktiziert?
Aber das Elend in Sahras Interview geht weiter:
„[…] leider verbinden heute viele mit „links“ etwas ganz anderes […] abgehobene Gender-Diskurse, die mit dem Kampf um echte Gleichstellung wenig zu tun haben. Das bedauere ich sehr.“
Was bedauert Sahra sehr? Dass „viele“ mit „links“ Gender-Diskurse verbinden oder dass linke Gen-der-Diskurse abgehoben sind und wenig mit echter Gleichstellung zu tun haben? Beides? Ist sie also der Meinung, wir Linke kämpften zu wenig gegen ökonomische Ungleichheit und zu viel gegen andere Formen der Diskriminierung? Warum sagt sie nicht, was richtig ist: Dass wir Linke gegen alle Formen von Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung kämpfen und auch kämpfen müssen? Warum wiederholt sie ohne deutliche Abgrenzung falsche Sichtweisen von „links“, die uns sonst vielstimmig aus bürgerlich-wertkonservativen und rechten Mitläufer- und Überzeugungslager entgegenschallen?
Sie stellt den Kampf für mehr Lohn gegen den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung. Diese Kämpfe dürfen wir nicht gegeneinander ausspielen. Im Gegenteil: Wir müssen sie zusammen denken, da sie zusammenhängen! Stichwort Dialektik!
Warum schon wieder so wachsweiche Formulierungen von unserer klugen, wortgewandten, mit öffentlichen Medien sehr erfahrenen Spitzenkandidatin?
Es ist ja nicht das erste Mal. Nach den Entrüstungen über Sahras öffentliche Äußerungen mit ihren nachfolgenden obligaten Erklärungs- und Beschwichtigungsversuchen (zur Erinnerung: Gemeint sind die Rede von Obergrenzen, die „Kapazitätsgrenzen“ genannt werden, was angeblich ganz was anderes sei, Ende 2015 passend zur medial geschürten Angst vor der „Flüchtlingsflut“, und die Rede vom Gastrecht, das verwirkt werden kann, geäußert im Januar 16, passend zum deutschen Volkszorn nach den Vorfällen am Kölner Hauptbahnhof. Nach dieser Serie glaubt doch niemand mehr an ein „Versehen“ des Politprofis, an ein Missverständnis in der Basis.
Ganz offensichtlich greift unsere Spitzenkandidatin in den Werkzeugkasten „besorgter Bürger“ in der Hoffnung auf Wählerstimmen aus der so genannten Mitte, die heute rechts vom Recht ist.
Und ganz offensichtlich stellt unsere Spitzenkandidatin „die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt“ nicht aber die Frage nach der Macht darüber, was und wie produziert wird. Soll DIE LINKE. ihr Heil in der „sozialen Marktwirtschaft“ suchen? Ja, dann wären wir die bessere SPD. Dann bräuchten wir die Schöpferin der Verelendungs-Agenda 2010 nicht mehr anzugreifen – denn auf die Ideen der ordoliberalen Marktwirtschaft à la Ludwig Erhard und Walter Eucken greift Sahra gerne zurück. Wir machen stattdessen der SPD das Angebot, sich doch endlich auf das „sozial“ in ihrem Namen zu besinnen. Dann fehlen noch die Grünen, die sich auf ihre pazifistischen Anfänge besinnen fertig ist Rot-Rot-Grün zur Verwaltung des kapitalistischen Elends. Obwohl, vielleicht gar nicht nötig. Denn, wie Sahra ebenfalls in diesem Interview anmerkt: „Ich glaube nicht, dass sich an der Frage der NATO die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer rot-rot-grünen Regierung entscheidet.“ So kann man unser Programm doch etwas aushöhlen und linke Forderungen zurücknehmen. So können zwar die Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt, Neokolonalismus und imperialistische Kriege nicht beendet werden, aber wir können es uns auf Kosten der restlichen Welt etwas kuscheliger in der kapitalistischen BRD machen.
Das ist wohl die Logik hinter den schillernden Aussagen unserer glänzenden Spitzenkandidatin.

22.12.2016, Renate Schiefer und Sebastian Sommerer