Kritik ist nicht schädlich, sondern nötig

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Anmerkungen zu Sahra Wagenknecht. Von Thies Gleiss

Manche Argumentationsraster, die hier aufgelegt werden, machen mir schon Sorgen. Wenn die Fraktionsvorsitzende der LINKEN kritisiert wird, dann ist das weder Selbstzerlegung der Partei noch wird dadurch irgendeine Anti-Sahra-Front aufgebaut. Nicht wenige der Sahra-Kritikerelche, waren früher nicht nur selber welche, sondern sind heute noch viel kritikwürdiger. Ein Rücktritt, Parteiausschluss und all die übrigen Phantasielosigkeiten, die jetzt von interessierter Seite als „Konsequenz“ in die Debatte gebracht werden, sind deshalb auch nur Quark.
Besser wären ein paar Hintergrundgedanken, warum Sahra so ambivalente Dinge zu einigen Themen sagt.
Hier ein paar Argumente:
Auch wenn Sahra den Shitstorm in den Netzwerken und im Zwischennetz mehr als verdient hat, so sind dennoch viele der Äußerungen gegen sie nicht minder fehl orientiert und fehl orientierend. Am wenigsten stören mich dabei die durchsichtigen Manöver des FDS. Sie wittern eine Chance für eine billige Retourkutsche angesichts der Kritik and der Abschiebepraxis der Regierung in Thüringen.

Was Sahra und noch länger als sie ihr Ehemann Oskar nicht begreifen, sind ein paar grundlegende Dinge:
1.
„Wir schaffen das.“ – Was hat es mit dieser legendären Äußerung von Angela Merkel auf sich? Für Sahra ist es nichts als eine voreilige und populistische Leerformel einer Regierungsverantwortlichen, die eine parlamentarische Opposition jederzeit als Leerformel und Populismus entlarven muss. Das war die Äußerung der Kanzlerin aber am aller wenigsten.
Im Zuge der tiefen Krise der EU und der Tragödien, die in auf dem Balkan, in Afrika, im Nahen Osten und Afghanistan angerichtet wurden, traten 2014 erstmals große eigenständige Mobilisierungen der Flüchtlinge in Erscheinung. Sie prägten mit beeindruckenden Aktionen in Hamburg, München, Berlin und mit einem Flüchtlingsmarsch mit großer Beteiligung den politischen Sommer und Herbst. Sahra Wagenknecht hat leider generelle Schwierigkeiten mit dem subjektiven Faktor gesellschaftlicher Veränderung. Sie weiß mit der realen ArbeiterInnenbewegung, mit gewerkschaftlichen Mobilisierungen ebenso wie mit der Umweltbewegung nur herzlich wenig anzufangen. Sie reduziert sie auf simple politische Hilfskräfte und eventuell noch Resonanzböden für ihre eigentliche und wichtigste parlamentarische Arbeit, das Regierungsspielen in der Opposition und die Organisierung von Wahlkämpfen. Da ist sie leider kompletter Mainstream in der LINKEN. Völlig ratlos stand und steht Sahra dem Auftreten von Flüchtlingen als eigenständig handelndes politisches Subjekt gegenüber, so wie leider sehr viele Linke mit ihr. Die zentralen Forderungen der Flüchtlinge „Bleiberecht für alle“, „Offene Grenzen“ erscheinen in der parlamentarischen, die „Kosten“ und Gegenfinanzierung im Auge habenden Linkskräfte als völlig utopisch, überzogen und Gruppen egoistisch. Und doch waren sie real, auf der Straße spürbar und waren vielleicht eine der seit Jahren erstmals massenhaft vorgetragenen Übergangsforderungen, die aus dem Kapitalismus heraus systemsprengende Forderungen ableiteten (das letzte Mal betraf das die Forderung nach der 35-Stundenwoche 1984/85).
Im Jahre 2015 bis heute schnellte die Zahl der Flüchtlinge noch einmal außerordentlich hoch, begleitet von furchtbaren Tragödien der Menschen auf der Flucht. Die Resonanz darauf war eine gewaltige Welle an elementarer Solidarität und „Willkommenskultur“ vor allem in Deutschland. Buchstäblich Hunderttausende übernahmen für eine Zeit das, was ein funktionierender Sozialstaat und eine humanitäre Gesinnung der Regierung sofort und ohne Aufforderung hätte machen müssen. Leider war ein Begleitfaktor dieser Welle an Solidarität, dass die politische Eigenständigkeit der Flüchtlinge von der gut gemeinten Stellvertreterpolitik der Helferinnen und Helfer wieder weitgehend erstickt wurde. Mit einer Ausnahme: Eine außerordentlich kampfbereite, militante und selbstbewusste Flüchtlingsstruktur ließ sich durch nichts beirren, um den Weg in das reiche Europa zu finden. Sie überwanden militärische und polizeiliche Absperrungen in sehr viel größerem Ausmaß als zum Beispiel „Ende Gelände“ oder „Castor Schottern“. Politisch erreichten sie die faktische Aufhebung eines der wichtigsten Repressionsverträge der EU, das Abkommen von Schengen. Sie brachten die EU in die tiefste Krise ihrer Existenz und auch und schlimmer: Ihres Selbstverständnisses (neben den satten Zusatzkosten für das Kapital, die mit der Aufhebung von Schengen verbunden sind).
Das waren die Gründe, warum Angela Merkel das „Wir schaffen das“ ausrief. Sie kapitulierte damit ein großes Stück vor der Flüchtlingsbewegung und der Solidaritätsbewegung des WelcomeToStay. Sie wurde für diese Äußerung von den Parteien ihrer Regierungskoalition (und zwar beiden, die SPD eher mehr) scharf gerügt. Nicht wegen des bescheidenen Inhalts dieser Losung (das war nicht mehr als jede beliebige andere Wahlkampf- und Sonntagsredenformel), sondern wegen der realen Kapitulation. So etwas darf eine bürgerliche Regierung nicht machen, wurde ihr vorgehalten.
Sahra Wagenknecht und mit ihr leider sehr viele Linke und LINKE haben diese politische Dimension des „Wir schaffen das“ bis heute nicht begriffen.

2.
Die tiefe Krise der EU – erst seit 2007 bezüglich Währung, Finanzkontrolle und Bankschulden, dann, nachdem die privaten Bankschulden in Staatsschulden umgewandelt wurden, der Umgang mit der Austeritätspolitik, dann das Aufbrechen der EU in Gewinner- und Verliererstaaten, und schließlich die Flüchtlingskrise – hat maßgeblich zum Entstehen und Wachsen der rechten, rassistischen und nationalistischen Parteien überall in Europa geführt. Alle Aspekte dieser Krise müssen in einer massiven Kritik der realen EU und der Politik der Regierungen münden, wenn die Linke und die LINKE sich dem rechten Spuk erfolgreich entgegen stellen will. Die EU hat spätestens nach der Brachialerpressung gegenüber dem Mitgliedsstaat Griechenland und angesichts des Massensterbens der Flüchtlinge ihre Unschuld verloren. Jetzt ist eine abstrakte Debatte über Verträge, um Reformen und Umgestaltung leider nicht mehr möglich. Heute muss der konkreten weiteren Ausführung der EU-Politik auf allen Ebenen in den Arm gefallen werden. Das wäre die nächste und notwendige Eskalation in einer solidarischen und unternationalistischen Flüchtlingspolitik wie auch der Solidarität mit der griechischen Bevölkerung. Sahra Wagenknecht hat dies in ihren Analysen sehr wohl aufgezeigt, in ihren praktischen politischen Forderungen und Konzepten ist sie dem aber leider nicht gerecht geworden.

3.
Sahra Wagenknecht ist zudem wie jede sozialdemokratische und etatistische Politikkonzeption nicht in der Lage, auf plötzliche, von realen Bewegungen ausgelöste Änderungen zu reagieren. Sie ist leider (aufgrund ihrer exponierten Stellung sogar besonders) komplett in der parlamentarischen Blase der Berliner Politik gefangen. Sie lässt sich jederzeit von den Parlamentsjournalisten, von TalkShows usw. auf die absolut nebensächlichen Fragen nach Regierungswollen, Kompromissen und Koalitionen festnageln und tappt leider in so ungefähr jede Falle (Das es von Gysi bis Liebig zahllose GenossInnen gibt, die in dieser Hinsicht noch grandioser sind, macht es nicht besser). Gesellschaftliche Debatten erscheinen nur als Reflexe bei Wahlbeteiligungen, als Schwankungen bei Wahlumfragen, aber niemals als reale politische Basis des eigenen und mehr noch des Handelns der gesamten linken Partei. Die „WählerInnenbasis“ ist immer wichtiger und vordergründiger (obwohl natürlich viel unbekannter und ambivalenter) als die eigene organisierte Basis der Parteimitgliedschaft und des engeren Umfelds an Aktivistinnen.
In Sachen Flüchtlingspolitik ist heute eine Radikalität nötig und möglich, die nicht mehr kompatibel ist mit der Behäbigkeit des etatistischen Sozialdemokratismus, über den in der Berliner Blase kaum eine und einer hinausdenkt oder gar hinauskommt. Diese Radikalität kommt heute leider nur als furchterregende Negation auf Seiten der rechten Horden auf die Bühne. Die linke Radikalität hat sich unglücklicherweise abgemeldet und die Ironie der Geschichte will es, dass die Ikone der größten Radikalität, die der LINKEN zugetraut wird, Sahra Wagenknecht, die Vorreiterin bei dieser Abmeldung ist.

4.

Helfen kann in dieser Situation eigentlich nur Aufklärung und breiteste Debatte in der gesamten Partei. Eine Demokratisierung der Partei Die Linke und der Aufbau politisch handlungsfähiger Parteistrukturen. Nur das wird die jederzeit wieder auftauchenden Verselbstständigungsprozesse in der der Berliner Blase ein wenig eindämmen. Rücktrittsforderungen und andere Sanktionen erreichen gar nichts. Um die persönliche Dramatik unserer Abgeordneten zu mindern ist allerdings dringend auch eine Befristung der parlamentarischen Ämter erforderlich. Ich mache jede Wette, dass, wenn Sahra aus dem Parlament ausscheidet und sie ein paar Jahre als Parteiaktivistin und Wissenschaftlerin außerhalb der Berliner Blase arbeitet, werden wir an ihr, sie an uns und an sich selbst noch viel Freude haben.

Köln 26.7.2016, Thies Gleiss, Mitglied im Bundessprecher*innen-Rat der Antikapitalistischen Linken, sowie im Parteivorstand der LINKEN.